Buchrezension des Praxisratgebers „Unterrichtsstörungen – Prävention und Intervention“ von Thomas Klaffke.
Ein-Blick in den beziehungsorientierten Schulalltag ergänzt mit dem Weitblick eines Praxisratgebers.
Es gibt viele Wege aktiv zu werden
Eine Ermutigung zum Fokuswechsel und zur Ressourcenaktivierung
Ein Lehrer von Tim kommt auf mich zu. Er ist frustriert und steht an: „Ich weiß nicht mehr weiter. Tim bringt so viel Wirbel und Unruhe in die Klasse! Schließlich gibt es auch noch 25 andere, die auch Recht auf Unterricht haben!“
Tim ist Schüler einer ersten Klasse Mittelschule und sitzt in letzter Zeit oft vor der Klasse im Gang. Er hat dort seinen Sonderplatz bzw. Stammplatz eingenommen. Er stört mit seinem Verhalten den Unterricht. Tim geht während der Stunden herum, ständig fällt ihm etwas hinunter, dann muss er wieder etwas trinken, kreischt und gibt krächzende Laute von sich. Bei Arbeitsaufträgen kann er sich schwer konzentrieren, er kann den Fokus kaum halten. Er schreibt nicht mit und geht in Widerstand. Täglich macht er sein eigenes Ding. Die meisten Lehrer:innen sind ratlos, manche glauben, dass diese Schule nicht der richtige Ort für ihn ist, sie dafür nicht ausgebildet sind und nichts mehr hilft.
„So ist das Unterrichten unmöglich! Was kann ich tun? Ich bin selbst auf 180!“
„Der will ja nicht hören. Dieser Schüler ist unmöglich, der macht mir meinen gesamten Unterricht kaputt!“
Und genau an dieser Stelle setzt das Buch von Klaffke an.
Wie können Lehrer:innen von Tim wieder in ihre Handlungsfähigkeit und Wirkungskraft kommen?
Wie bleiben sie trotz dieser herausfordernden Situationen mit ihrer Empathie und Gestaltungskraft in Verbindung und behalten dabei die Führung?
In angespannten Situationen blockiert der Beziehungsfaden, der Handlungsspielraum wird eng, der Stresslevel bei Lehrer:innen und Schüler:innen hoch und Frust und Ärger sind vorprogrammiert.
Für Störungen gibt es kein Wundermittel. Sie sind immer ein Wechselspiel aus den Lebensumständen des Kindes, der persönlichen Autorität der Lehrperson, der Unterrichtsgestaltung, des Classroommanagements und der Beziehungsgestaltung. Thomas Klaffke ermutigt in seinem Buch „Unterrichtsstörungen – Prävention und Intervention“ die vorhandenen Ressourcen zu aktivieren und Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu übernehmen. So zeigt er Wege auf, wie Lehrpersonen sich auf die Beziehung und einen gleichwürdigen und dialogischen Prozess einlassen und den Blick weg vom Kind als „Störfaktor“ hin zu sich als Fachperson lenken können. Dabei stellt er immer wieder dieselbe Frage in den Fokus: „Was kann ich als Fachperson (bei mir) selber machen, um Veränderung zu bewirken?“
Es gibt viele Wege, präventiv zu gestalten
Klaffke ermutig. Es gibt Wege, präventiv zu gestalten und schon im Vorfeld einen guten Boden zu schaffen, auf dem sich Lernen und Beziehung entfalten können. Er führt 5 präventive Ressourcen auf, die jeder Schule, aber auch jeder einzelnen Lehrperson zur Verfügung stehen. Darin liegen viel Potential und Gestaltungskraft:
– partizipative und aktivierende Unterrichtsgestaltung
– auf Wertschätzung und Gleichwürdigkeit aufbauende Beziehung
– Entwicklung der fachpersönlichen Selbstreflexion und Selbstanbindung
– Methoden des Classroommangements
– Vernetzen und Handeln im Sinne des gemeinsamen WIR
Kurz und knackig bekommt man einen umfassenden Überblick in ein sehr komplexes Thema. Anhand von wertvollen Beispielen und im Download ausgearbeiteten Arbeitsmaterialien bietet der Autor ein breites Handlungsrepertoire für einen präventiven Umgang mit Herausforderungen im Unterrichtsalltag. Nach einem ersten Einblick in mögliche Quellen von Störungen und in ein Ideenpool niederschwelliger Maßnahmen regt er zum nachhaltigen Reflektieren und Handeln als Fachpersönlichkeit an.
Zudem ermutigt er Schulen, sich als Team auf den Weg zu machen und an einem gemeinsamen Wir als tragenden Boden zu arbeiten.
Er bestärkt Lehrende, sich selbst als Lernende zu erleben und ein System aus multiprofessioneller Unterstützung, Loyalität, Supervision, Fortbildung und Vernetzung im Hintergrund aufzubauen.
Ein konstruktiver Umgang mit Störungen und Konflikten baut vor allem auf Haltung und Beziehung auf. Eine Kultur der Gleichwürdigkeit, bei der Lehrerinnen die Rückmeldungen von Schüler:innen ernst nehmen und sich auf einen Dialog einlassen, ist pädagogisches Handwerk, das erlernt werden kann.
Die Arbeit mit und an sich selbst
Frust, Ärger und Überforderung erleben auch Tims Lehrer:innen in angespannten Situationen. Entscheidend ist, wie sie damit umgehen, ihre Situation kommunizieren und Verantwortung für persönliche Grenzen, Bedürfnisse und eigenes Handeln übernehmen.
Klaffke setzt an dieser Stelle bei den Lehrpersonen an und lädt ein, den Eigenanteil von Störungen im Unterricht genauer zu hinterfragen.
So widmet er der Erweiterung der persönlichen Führungs-, Beziehungs- und Selbstkompetenz viel Aufmerksamkeit. Die Arbeit mit und an sich selbst zieht sich als roter Faden durch das Buch.
So können auch die Lehrer:innen von Tim den Lern- und Beziehungsraum mit Tim konstruktiv prägen. Alle Menschen sind auf Beziehung angelegt. Es macht Sinn, sich für das Zwischenmenschliche stark zu machen und an der Interaktionsqualität zu arbeiten.
Je mehr die Lehrperson als ganzer Mensch spürbar und anwesend ist, eigene Grenzen formuliert und eine persönliche Sprache spricht, desto eher kann Tim erreicht werden.
Wie kann es den Lehrpersonen gelingen, auch bei starken Gefühlen bei sich selbst zu bleiben, die Welle zu surfen und den Kontakt zu sich rasch wieder zu finden?
Mit praxisorientierten Anregungen regt Thomas Klaffke an, über Körper, Herz und persönliche Präsenz wieder den Kontakt herzustellen und Wertschätzung, Anerkennung und Klarheit im Schulalltag zu leben.
Er verweist auf wertvolle Links und Zugänge und betont immer wieder: „Sich selbst anzunehmen und im guten Kontakt mit sich selbst zu sein, ist die Voraussetzung dafür, mit anderen gut in Kontakt zu sein.“
Eine Schlüsselkompetenz hierfür sieht er in der dualen Aufmerksamkeit. „Je ausgeglichener die Balance der nach innen und der nach außen gerichteten Aufmerksamkeit ist – zwischen Kopf und Herz ebenso wie zwischen fachlichem Wissen und persönlichem Sein – desto leichter fällt es, die Qualitäten Respekt, Interesse, Empathie und Toleranz, die ein positives Lernumfeld fördern, in die Beziehung einzubringen.“
Vom Methodenkoffer zum inneren Ressourcenkoffer
Tims Lehrpersonen wünschen sich schnelles Handwerkszeug und greifende Methoden. Denn in diesen Situationen muss es gefühlt schnell gehen, rasches Reagieren ist notwendig.
Doch in Stresssituationen sind Methoden selten abrufbar. Es braucht Werkzeuge des Handelns, abseits der kognitiven Annäherung. Das weiß auch Klaffke. Er bezieht sich auf die von Helle Jensen formulierten fünf natürlichen Kompetenzen, Atem, Körper, Herz, Wahrnehmung und Kreativität. Sie stehen uns immer und überall zur Verfügung. Wenn wir über eine dieser Brücken mit uns in Kontakt treten, können wir lernen unsere Bedürfnisse zu erkennen und diese in echten, klaren Botschaften zu äußern. Dann gelingt es in schwierigen Situationen immer öfter präsent, empathisch und gelassen zu reagieren und mit persönlicher Autorität, Authentizität und ganzem Herzen in Kontakt zu gehen. Diese Tore zur Innenachse stehen uns immer offen und sind rasch zugänglich, vor allem wenn wir sie in entspannten Situationen bewusst üben und verankern.
WIR haben ein Problem!
Klaffke bestärkt Lehrpersonen, offen auszusprechen, was sie ärgert, was sie brauchen und sich für die Zusammenarbeit wünschen. So leben Erwachsene Kindern vor, wie man für sich selbst sorgt und Verantwortung für eigene Grenzen und Emotionen übernimmt.
Das fordert auch Tim ein. Er will die Lehrer:innen spüren. Er testet die Grenzen aus.
Er reagiert, wenn man sich zu ihm setzt, ihm in die Augen schaut und beharrlich bleibt und er spürt: „Hier ist meine Grenze!“
Eine Lehrperson will Tim zum Direktor schicken. „Dieser soll ihm doch bitte klar machen, dass es so nicht geht.“ Ich zweifle an der Sinnhaftigkeit und Wirkung dieser Intervention. Daher bin ich erleichtert zu erleben, dass Lehrpersonen sich immer häufiger von problematischen Maßnahmen wie „das Schicken zum Direktor“ oder stupides Abschreiben der Schulordnung distanzieren. Auch dazu nimmt der Autor in seinem Buch kritisch Stellung.
Denn diese Intervention macht nur Sinn, wenn sie auf Basis der Gleichwürdigkeit passiert und die Lehrperson gemeinsam mit Tim das Gespräch bei der Schulleitung sucht. Entscheidend ist die offene und gleichwürdige Haltung: Nicht „Du bist das Problem“, sondern „Wir haben ein Problem und wir schauen gemeinsam, wie wir da weiterkommen. Daher holen wir uns Hilfe.“
Wenn solche Gespräche mit Tim gut in die Beziehungsarbeit eingebettet sind und dialogisch geführt werden, können sie ihre Wirkungskraft entfalten.
Mit Tim einen Dialog zu führen, heißt offen zuhören, seine Realität sehen und sich als Lehrperson selbst in einen Lösungsweg miteinbeziehen. Denn beziehungspädagogisch Handeln bedeutet, dass ich als Lehrperson immer Teil des Problems und Teil der Lösung bin.
Die Einladung annehmen
Ich bin überzeugt, dass Kinder das existentielle Bedürfnis haben, zusammenzuarbeiten und Teil der Gemeinschaft zu sein. Sie wollen sich wertvoll und zugehörig fühlen. Daher sind sie bestrebt, immer ihr Bestes zu geben, um die Beziehung zu ihrer Umgebung aufrecht zu halten.
Aus dieser Perspektive macht das Verhalten eines Kindes immer Sinn.
Wenn ein Kind wie Tim sich auffällig verhält, sieht das Jesper Juul als eine Einladung an die Erwachsenen. Er drückt damit aus: „In meinem Sein ist es im Moment schwierig. Ich lade dich zu mir ein, damit wir darüber reden können. Mein Verhalten ist meine Einladung.“ (Juul, 2020, S.144)
Als Erwachsene können wir überlegen, ob wir diese Einladung annehmen, und nachfragen, was eigentlich los ist.
Einzelne Lehrpersonen von Tim nehmen diese Einladung an und es entsteht eine Verbindung, ein Verständnis für sein Realität, seine innere Not und sein So-Sein. Diese Art der Begegnung ist die Basis für kleine, weitere gemeinsame Schritte.
Einigen zugewandten Lehrpersonen von Tim gelingt es, sich empathisch auf Tim einzulassen und eine emotionale Berührtheit zuzulassen. Sie sind interessiert an Tim, wie es ihm geht und was er mit seinem Verhalten ausdrücken will. Es entstehen kleine gelingende Beziehungsmomente, in denen er sich öffnen, zeigen und auf das Gespräch einlassen kann. Und da entpuppt sich Tim als ein zugänglicher, wortgewandter, intelligenter und reflektierter Junge, dem es zur Zeit nicht gut geht und der wenig Halt und emotionale Bestärkung in seinem Beziehungsnetz erfährt. Sie schaffen durch ihre Offenheit und Herzenswärme einen Boden der Sicherheit, auf dem sich der Junge öffnen und auf Anforderungen von außen besser einlassen kann. So stehen nicht Methoden und Maßnahmen im Fokus der Intervention, sondern die Beziehung im Hier und Jetzt.
Denn „Die Qualität der Beziehung zu uns anvertrauten Kindern entscheidet maßgeblich darüber, ob Erziehung in ... der Schule gelingt." (Juul, 2020, S.123)
Dazu macht das Buch Mut und zeigt Wege auf, wie beziehungsorientierter Unterricht gelingen kann. Es bestärkt auch mich als Beraterin, mich für diese Haltung an Schulen stark zu machen. Ich kann das Buch wärmstens weiterempfehlen!
Buchempfehlung
Thomas Klaffke: Unterrichtsstörungen – Prävention und Intervention, Möglichkeiten und Chancen einer ressourcenorientierten Pädagogik, Kallmeyer Verlag 2020