Die Tage werden spürbar kürzer, die Temperaturen sinken und ich ziehe mich gerne in meine vier Wände zurück. Ich bin froh,
dass mich dicke Mauern vor der nächtlichen Kälte schützen, und ich genieße es auch für mich zu sein. Aber nur für mich sein reicht im Moment nicht. Ich schaue mir zu, wie ich mich auch in mich selbst zurückziehe. Ich die Schlagzeilen, beunruhigende und erschreckende Nachrichten und Bedrohungen dieser Welt außenvorlasse und nur auf das schaue, was mir direkt begegnet. Es reicht mir, mich von den Menschen, die mir direkt begegnen, berühren zu lassen. Zu spüren, dass sie mich erreichen und ich sie, wenn wir beide zur gleichen Zeit am gleichen inneren und äußeren Ort sind. Aber sonst ziehe ich mich häufig nach Innen zurück. Nehme wahr, wie es gerade bei mir ist. Begegne mir und der Frau, die ich geworden bin. Ich kenne Zeiten der stärkeren Innenschau und erlebe sie jedes Mal anders – manchmal schön und manchmal beunruhigend und herausfordernd. Ich finde mich auch in mir immer wieder an einer Schwelle zu Unbekanntem, zu Dingen, die mir nicht vertraut sind oder die ich bisher nicht sehen konnte oder wollte.
Der Impuls nach Innen zu schauen, kommt nicht immer so freiwillig und leicht, wie ich es mir selbst wünschen würde und trotz der Erfahrung, dass es letztlich befreiend und sinnstiftend ist. Über den Lauf des Lebens beobachte ich, wie mich das Leben immer wieder dazu auffordert, manchmal sanfter, manchmal mit mehr Nachdruck. Aber mit einer Unnachgiebigkeit, wenn es wirklich an der Zeit ist – genauso, wie ich es bei meinen Klient:innen erlebe. Wenn wir Gefahr laufen, uns selbst in unserem Tun und den Anforderungen des Alltags zu verlieren, wird es nämlich ernst. Ohne innere Anbindung an uns selbst, sind wir nicht wir selbst, die lieben, die handeln, die denken und fühlen. Wir sind nur noch ein matter Abglanz unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten und wir verlieren allzu leicht den Boden unter den Füßen.
Heuer haben mich nicht leicht erklärbare Schmerzen gezwungen innezuhalten. Gezwungen zu spüren, was ich gerade spüre. Zu spüren, dass ich einiges festhalte, dass Ängste und Sorgen da sind, die ich nicht so ernst genommen habe. Aber in diesem Hinspüren tritt unter den Ängsten und Sorgen ein Sehnen nach Loslassen, Vertrauen und Gelassenheit hervor. Ein Sehnen, mich anzulehnen und anzuvertrauen. Eine Sehnsucht, wieder zu hoffen und den vielen bedrohlichen Dingen in unserer Welt nicht mit Angst und Überforderung gegenüberzustehen, sondern mit Hoffnung und innerem Frieden, dass es doch gut werden kann.
Loslassen und Vertrauen sind Facetten unserer Beziehungen, aber wie ich immer wieder neu und in unterschiedlichen Facetten entdecke, haben sie doch mehr mit meinen Erfahrungen im Innen zu tun als auf den ersten Blick ersichtlich. Auf den ersten Blick erscheint es ja so, dass wir zum Vertrauen jemanden brauchen, dem wir vertrauen können. Zum Anlehnen, jemanden oder etwas zum Anlehnen. Zum Loslassen jemanden, der das auffängt, was ich loslasse. Es (was auch immer ich loslasse) soll ja doch nicht zu Boden fallen.
Aber die Reise führt mich dieses Mal woanders hin. Zu dem wie es sich anfühlt loszulassen, zu dem wie das eigentlich funktioniert, den Greif- und Festhaltereflex bewusst außer Kraft zu setzen. Aktiv nicht zu gestalten, zu bestimmen, zu reagieren usw. So schön und wertvoll diese Qualitäten häufig sind. Aber mit der Unsicherheit des Loslassens kommt auch die Offenheit für die neue Erfahrung. Die Offenheit zu spüren, was ich wirklich spüre.
Eine Aussage der Neuropsychologin Marianne Bentzen, die mich seit einigen Wochen begleitet, ist „Fear at the edge of the unknown, is at the same place in our brain as our curiosity“. Gerade in diesen Zeiten, wo mir vieles von der Klimakrise, über die psychosozialen Nach- und Auswirkungen der Pandemie bis hin zu den Machtdynamiken in der Politik Sorgen macht und mir die Zukunft unsicherer erscheint, als früher angenommen. (Genau genommen war die Zukunft immer sehr unsicher. ;-)) Der Gedanke, dass ich sowohl mit Angst als auch mit Neugier diese Schwelle des Unbekannten nehmen kann, inspiriert mich und macht mir Mut. Ich sitze hier und spüre, wie sich mein Rücken an den Stuhl schmiegt und sich wohlige Weichheit in mir ausbreitet, wenn ich Spannung im Inneren loslasse. Nicht weil alles gut ist, nicht weil die Arbeit erledigt ist, nicht weil ich im Leben keine Aufträge und Aufgaben habe, aber weil ich mich anschmiegen kann. Weil ich die Fähigkeit in mir wieder entdecke (können tun wir es von Geburt an), es mir erlaube und ich es spürend neu entdecke. Erst im Anlehnen und Loslassen, spüre ich, dass Anderes trägt und stützt und es ist oft genug nicht das Erwartete und Bekannte, sondern oft genug auch das Unbekannte.
Im Namen der IGfB wünsche ich Euch Zeiten des inneren Rückzugs, des Entdeckens der Kraft und der Möglichkeiten, die in euch liegen und mit denen wir die Welt ganz anders und neu gestalten können. Wenn ich ich und du du bist.
Bildnachweis: Gernot Candolini (labyrinthe.at)