Wieviel Freiraum brauchen Kinder? Viele junge Eltern stellen sich diese Frage heutzutage. Sie ist sozusagen im Mainstream der Kindererziehung angekommen.
Das war nicht immer so: sehr lange Zeit über ist nicht der Freiraum für die persönliche Entwicklung des Kindes von Bedeutung für Eltern, sondern wie sie ihre Kinder zu anständigen, gut angepassten Mitgliedern der Gesellschaft erziehen können. Gehorsam ist der Kern und das Ziel der Erziehung.
Der große Paradigmenwechsel – der andere Blick aufs Kind – findet in zwei großen Wellen statt: Die erste ist die reformpädagogische Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in ihrer Vielfalt starke Impulse für Lehrer:innen und Eltern aussendet. Aber damals ist der autoritäre Geist der Zeit, der im Nationalsozialismus seinen grauenvollen Höhepunkt erreicht, stärker und macht den meisten Reformideen den Garaus oder vertreibt sie in kleine geschützte Nischen.
Das Pendel schlägt zurück: Lasst Kinder an die Macht!
Die zweite Welle kommt im Zuge der 68er-Bewegung daher: Autoritäten und die dazugehörigen Machtverhältnisse werden hinterfragt und verworfen. Der Gehorsam kommt in Verruf – auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Zu viel hatten gehorsame, obrigkeitstreue Soldaten, Staatsdiener und auch Eltern angerichtet – auf den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, in staatlichen Institutionen und in der Familie. Die Idee einer antiautoritären Erziehung verbreitet sich in den Kinderzimmern linker Jungfamilien: Kinderläden öffnen ihre Pforten, wo die Jüngsten ihren Interessen und Neigungen nachgehen sollen – ohne elterliche oder staatliche Einmischung. „Selbstbestimmt statt fremdgetrimmt“ ist die Devise. Als Eltern Kinder als Partner zu betrachten beginnen und die elterliche Führung zugunsten von freundschaftlichem Zusammenleben aufgeben, bekommen sie aber oft nicht die erwartete fröhliche Familie, in der alle Beteiligten ihr selbstbestimmtes Leben leben könnnen.
Die Rechnung geht für Eltern nicht richtig auf: Die alten Normen wie Gehorsam, Ordnung und Anpassung allesamt ersatzlos über Bord zu werfen und Kinder „antiautoritär“ oder „nicht-direktiv“ zu erziehen beschert Eltern unentspannte Kinder, die „den Rahmen sprengen“, „die Eltern ständig austesten“ oder „einfach nicht folgen“. Denn, so formuliert es der dänische Familientherapeut Jesper Juul, von manchen als „Elternflüsterer“ bezeichnet: „Kinder wissen, worauf sie Lust haben, aber nicht immer, was sie brauchen“.
Bücher wie „Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden“ oder „Lob der Disziplin“ beschreiben die Folgen der „laissez-faire“ Erziehung recht eindrücklich und plakativ und wurden dadurch zu Bestsellern. Die darin vorgeschlagenen Gegenstrategien fußen allerdings auf rückwärtsgewandten Idealen der Konditionierung und Disziplinierung.
Neue Eltern braucht das Land
Eltern von Heute wünschen sich von Herzen, dass ihr Kind sich optimal entwickeln kann UND gleichzeitig ein harmonisches Familienleben ohne ständige Konflikte. Sie sind nicht mehr bereit, dem überkommenen autoritären Erziehungsstil zu folgen, der mit Androhung und gegebenenfalls Ausführung von körperlicher Gewalt, Erniedrigung und Beschämung arbeitet. Sie wollen aber auch nicht, dass ihre Kinder maß- und grenzenlos ihren Gelüsten nachgehen und sich die Elternrolle in der Erfüllungshilfe der Kinderwünsche erschöpft. Wie eine alternative Erziehung aussehen kann, dafür haben sie aber meisten keine Referenz – es gibt einfach keine Tradition, der sie vertrauen können.
Eine Flut von Erziehungsratgebern nimmt hilfesuchende Eltern hier bei der Hand und versucht Wege zu weisen. Diese verlieren sich aber allzu oft in widersprüchlichen Ratschlägen und fehlender Anbindung an die persönlichen Ressourcen der Eltern. Entwicklungspsychologie und Hirnforschung liefern laufend neue Erkenntnisse über die Kompetenzen, die Kinder schon bei der Geburt mitbringen, und die Bedingungen einer förderlichen Umgebung, die diese Kompetenzen gedeihen lassen. Das hilft Eltern nur bedingt: Eher erhöht es den Druck, den sie sich auferlegen: Der Anspruch, Kindern eine gelingende Kindheit und einen guten Platz im Leben zu ermöglichen, wächst immens. Das Bestreben nach der bestmöglichen Förderung (manche nennen es lieber „Begleitung“) für ihre Kinder führt bei vielen Eltern zunehmend zu einem Phänomen, das Psychologen „Erziehungsunsicherheit“ nennen. Aus dieser Unsichheit erwächst die permanente Sorge, ob die elterliche Anstrengung auch „genug“ und/oder „richtig“ ist.
Die zwei Seiten der Sorge
Die eine Seite der Sorge führt zu Überfürsorglichkeit oder Überbehütung: Ich sorge mich, dass du nicht genug Gutes bekommst – daher sage ich zu oft JA. Diese Haltung hat eine Reihe von elterlichen Phänotypen hervorgebracht:
„Schneepflug-Eltern“ (oder auch „Curling-Eltern“ – bezugnehmend auf das im Curling-Sport übliche hin- und her Wedeln vor dem Curlingstock, damit der schnell und möglichst reibungslos ans Ziel kommt) möchten ihrem Kind schlechte Erfahrungen womöglich ersparen und alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Sie tun alles dafür, dass ihr Kind nicht weint bzw. schnell damit aufhört und negative Gefühle, besonders solche der Frustration, möglichst schnell wieder verschwinden. Sie sind überzeugt, dass sie ihrem Kind helfen müssen, dass es möglichst nur positive Gefühle hat und sich glücklich bzw. „gut“ fühlt. Bei den „Helikopter-Eltern“ kommt noch der Aspekt der Überwachung hinzu: Sie möchten alle Wege und Kontakte ihrer Kinder kontrollieren, damit ihnen nichts „Schlechtes“ zustößt.
Die andere Seite der Sorge führt zur Überzeugung, dass ein Kind „Grenzen“ braucht und Erziehung „konsequent“ sein muss: Ich sorge mich, dass du etwas Schlechtes machst, daher sage ich zu oft NEIN. Die Eltern gehen davon aus, dass sie ihrem Kind Grenzen setzen müssen („bis hier her und nicht weiter“), wenn es „aggressiv“ wird, sie „austestet“, oder sogar die „Grenzen einfordert“. Hier helfe nur konsequentes Handeln, indem sich beide Elternteile einig sind und einig auftreten. Hilft das alles nichts, dann müssen die Grenzen enger gesetzt werden – es muss „Konsequenzen“ geben (eine neudeutsche Umschreibung für Strafe).
Warum Sorgen keine guten Familienbegleiter sind
Diese beiden auf den ersten Blick konträren sorgenden Erziehungshaltungen haben noch weitere Paralellen:
- Sie machen den Blick der Eltern eng: Der Fokus liegt auf dem, wie das Kind sein soll. Das reale Kind im Hier und Jetzt gerät außer Sicht hinter dem angehäuften Wissen oder den elterlichen Überzeugungen.
- Sie schränken den Raum ein – für die Kinder und die Eltern. Die Freiräume, die ein Kind von Eltern mit übertrieben behütenden oder beschränkenden Erziehungstendenzen hat, sind sehr begrenzt. Die kindliche Lust am freien Experimentieren (und die daraus folgenden Lernerfahrungen) werden von den Eltern oft als „zu gefährlich“ eingestuft, entweder, weil die Befürchtung da ist, es könnte „etwas“ passieren, oder aus der Sorge, das Kind könnte schlechte Angewohnheiten entwickeln. Aber auch der elterliche Raum wird begrenzt: Die Sorge ums Kind hindert am Nachspüren, was ICH – als Mutter/Vater und als Mensch – möchte. Statt als Person für das Kind erlebbar zu werden, steht die Sorge zwischen den Eltern und ihrem Kind.
- Sorgen halten das Gegenüber klein und hilflos: Im permanent sorgenden Verhalten liegt die Botschaft: „Du schaffst es nicht ohne mich“ oder: „Du weißt nicht, was gut für dich ist“. Natürlich sagen Eltern das ihren Kindern nicht bewusst, die ausgesprochenen Worte können sogar komplett gegenteilig sein: „Toll, wie du das machst“ oder „Du bist so gescheit/geschickt/tüchtig“, aber das Gift der Besorgnis geht unter die Haut. Wenn es über lange Zeit verabreicht wird, richtet es großen Schaden an: Entweder sie bleiben bis ins Erwachsenenalter abhängig von und bezogen auf Hilfe von außen. Trifft diese Hilfe dann nicht ein, wird auch das Außen (zuerst die Eltern, dann die „Anderen“ – die Gesellschaft, der Staat usw.) dafür verantwortlich gemacht. Oder sie kämpfen ihr Leben lang gegen jede „fürsorgliche Belagerung“ an und zahlen damit einen hohen Preis, weil dieser Kampf jede echte Nähe in einer Beziehung schwer macht oder gar verhindert.
Raus aus der Sorgen-Schiene
Das Sorgenkarussel dreht sich und ein Ausstieg ist oft nicht leicht. Manchmal sind es doch professionelle Ratgeber, die einen eine Exitstrategie aufzeigen: „Ich kann mein Kind genießen, oder mir Sorgen machen – beides gleichzeitig geht nicht!“. Dieser Satz von Jesper Juul begleitet mich seit vielen Jahren. Er gibt mir immer wieder den kleinen Stups, der nötig ist, um meine aufkommende Sorge um das Wohlergehen eines meiner Kinder bei Seite zu legen und genau hinzuschauen: Wie geht es mir jetzt gerade? In welchem Gefühl stecke ich? Hilflosigkeit? Ohnmacht? Angst? Traurigkeit?
Wenn ich mein Empfinden einem Gefühl zuordnen kann und dieses zulasse, kommt der Moment intensiver Berührtheit, ein Schmerz, der mir manchmal die Tränen in die Augen treibt, manchmal aber auch nur als Druck in der Herzgegend oder als Knödel im Hals daher kommt. Dann lasse ich ihn eine Weile bleiben, bis er abklingt. Schaue ich dann auf mein Kind, kann ich vielleicht wieder sehen, was NOCH alles da ist.
Sehen können, was alles gelungen ist (und noch gelingt), ist ein mächtiges Antidot gegen den Überfall der Sorge und der Enge, die sie verursacht. Emmi Pikler empfahl den Eltern, die sie als Ärztin begleitete, sie sollten in den positiven Wahrnehmungen von ihren Kindern „baden“. Das versuche ich dann. Ich habe diese Rettungsanker langsam entwickelt, das war ein jahrelanger Prozess. Mein Ältester hat sicherlich das Meiste abbekommen von meiner Sorge, meinen Schuldgefühlen und dem daraus resultierenden Handeln. Lang gab mir das beim daran Denken einen Stich. Jetzt ist es nur mehr ein leises Nicken: So ist es!
Freiraum für persönliche Entwicklung
Der Freiraum, den Kinder benötigen, hier zu beschreiben ist leicht, das Vertrauen und die Geduld dafür aufzubringen, diesen Freiraum zu gewähren, ist es nicht (immer).
Kinder brauchen
- Raum für Bewegung und Entdeckungen. Raum nicht nur im engen Sinn des Wortes, also ausreichend Platz, sondern auch den „potentiellen Raum“ wie ihn der englische Entwicklungspsychologe Donald Winnicott nennt: Die Ermöglichung von selbst eingeleiteten und selbst ausgeführten Körpererfahrungen. Begegnungen mit Material und Menschen. Gelegenheit für das Entdecken des eigenen Körpers und den der „Anderen“. Gelegenheit für Erfahrungen – auch für „schlechte“ (!), wie z. B. die Erfahrung zu fallen, zu scheitern oder warten zu müssen. Dieser Raum muss eine verlässliche Begrenzung haben, aber mit dem Alter des Kindes wachsen. Das Kind braucht in diesem Freiraum einen „relevanten“ Erwachsenen (Mutter, Vater oder eine andere vertraute Person), der es „sieht“ ohne es verändern oder verbessern zu wollen, und der ihm das Gesehene auch immer wieder zurückspiegelt.
- Zeit für sich, das heißt Zeit, in der sie nicht „reagieren“ müssen. Reagieren auf Angebote, Anforderungen oder ganz allgemein formuliert auf „Störungen“ von außen. Für sich sein können ist eine Kompetenz, die sich Eltern zwar von ihren Kindern wünschen, aber oft nicht hinreichend unterstützen. Es braucht Feinfühligkeit, um zu spüren, wann ist meine Kontaktaufnahme willkommen und wann möchte mein Kind in Ruhe gelassen werden. Das gelingt Eltern nicht leicht, einerseits, weil die weiter oben geschilderten Sorgeprozesse aktiviert sind, aber auch weil Eltern in ihrer eigenen Kindheit selten am eigenen Leib derartige Erfahrungen des Respekts vor ihren Ruhebedürfnissen erleben durften.
- Freiraum vom Mitmachen: Wenn die Oma zu Besuch kommt, muss das Kind kein Bussi geben „weil es die Omi so freut“, wenn die Nachbarin die Hand ausstreckt, muss das Kind diese nicht schütteln, „weil die Nachbarin sonst denkt, du bist unhöflich“, wenn Freunde zu Besuch sind, muss das Kind nicht alles teilen, „weil sonst der … nicht mehr kommen mag“. Kurz gesagt: Freiraum zum NEIN sagen!
Freiraum für Eltern
Bisher ist es um Freiräume für Kinder und die Voraussetzungen dafür gegangen. Nun soll auch den Freiräumen für Eltern hier ein bisschen Platz gewidmet sein: Die hohen Ansprüche, die Eltern an sich selbst stellen um ihren Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen bergen immer die Gefahr, dass sie auf sich selbst „vergessen“. Auch Eltern dürfen ihren Kindern gegenüber für ihre Freiräume eintreten! Ein Säugling braucht eine Zeit lang fast die gesamten Ressourcen der Eltern. Aber nach einiger Zeit – so nach acht, neun Monaten – darf sich bei den Eltern der Bedarf nach Freiraum wieder melden. Anfangs sind das vielleicht nur Momente, die das Kind warten muss, weil Mama und Papa etwas „für sich“ machen oder auch füreinander. Viele Eltern verspüren zwar den Wunsch nach mehr Zeit für sich selbst oder auch nach mehr Paarzeit, aber schnell kommt das schlechte Gewissen oder das schiere fehlende Vorstellungsvermögen, WIE denn das gehen soll. Die Vorstellung, das Kind „abzugeben“ ist besonders für Mütter anfangs schwierig und sei es auch der Vater, der die Betreuung übernimmt. Wahrscheinlich ist der Satz “Ich genieße es, wenn ich nicht bei dir bin“ eine ZuMUTung für uns Mütter (und so manchen Vater auch!). Aber ich kann es hiermit schriftlich bestätigen: Dem Kind schadet er nicht! Dazu möchte ich noch einmal Jesper Juul zu Wort kommen lassen: „Ein Nein zum Kind ist ein Ja zu mir selbst“. Für dieses Ja einzustehen heißt, für sich selber zu sorgen – und nichts ist ein besseres Vorbild für Kinder, als Eltern, die gut für sich selber sorgen.