In jeder Gesellschaft kann Freiheit nie ohne Grenzen gelebt werden. Daher ist es so: Je mehr Freiheit wir genießen, desto größere Verantwortung tragen wir gegenüber anderen und auch gegenüber uns selbst. Wir müssen uns wegbewegen von der Freiheit der Indifferenz hin zur Freiheit der Involvierung.
Das Gegenteil ist ebenso wahr: „Je mehr wir unseren Sinn für Verantwortung entwickeln, desto mehr steigern wir unsere innere Freiheit (…)“ (Helmut Schmidt 5. Bundeskanzler der BRD).
Advent heißt Ankunft: Ein Wort, das für mich mit großen Erwartungen aufgeladen ist. Nicht zuletzt, weil es in unserer christlich geprägten Welt auch mit der Hoffnung auf Erlösung verknüpft ist. Gerade in dieser Zeit der Pandemie scheint mir diese Hoffnung als Stimmung mitzuschwingen wie der Grundton eines „Generalbasses“.
Wie scharf kontrastiert diese Hoffnung mit der Polarisierung und den harschen Tönen, die derzeit die öffentliche Debatte und die privaten Beziehungen prägen, gerade im Zusammenhang mit der Covid 19 Pandemie und den entsprechenden Maßnahmen. Im öffentlichen Diskurs wird gerne Schuld zugewiesen, Angst geschürt und es werden Vorwürfe gemacht. Das spaltet die Menschen und vergiftet die Atmosphäre zwischen ihnen. Ich beobachte, wie viele ihren Mitmenschen mit Misstrauen begegnen und sehe, dass sich Skepsis breit macht: „Was denkt der von mir?“ „Wie gefährlich ist die für mich?“ „Kann ich mit denen offen reden? Sind sie meiner Meinung, oder verunsichert mich das Gespräch mit ihnen noch mehr?“ In dieser vergifteten Atmosphäre ist es schwierig, anderen Menschen offen zu begegnen. Sogar gute Bekannte, Freund:innen, Geschwister und Verwandte können so zur Bedrohung werden.
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst macht Beziehung schwierig und hemmt den Kontakt, denn Kontakt lebt von Offenheit. Angst führt hingegen dazu, dass wir uns verschließen, verkrampfen. Unser gesamtes System wird wachsam, um jede Bedrohung frühzeitig erkennen zu können und mit Kampf oder Flucht zu reagieren. Je mehr unser Umfeld uns vermittelt, die Lage sei gefährlich, desto angespannter sind wir.
Vertrauen könnte da helfen, doch weder unsere Politiker:innen noch unsere Medien scheinen eine Ahnung davon zu haben, wie Vertrauen geschaffen werden kann. Drohungen und Katastrophenmeldungen sind nicht geeignet, ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen.
Was kann ich also tun?
Ich konzentriere mich auf meine Welt und versuche herauszufinden was mir Sicherheit gibt.
Menschen, die mir vertraut sind, geben mir Sicherheit. Je unsicherer mein Umfeld wird, desto mehr brauche ich den Kontakt zu ihnen. Auch Menschen, zu denen ich bereits in Beziehung bin, können mein Vertrauen auf die Probe stellen und für mich unsicher werden, dann kommt es darauf an, wie wir miteinander umzugehen gelernt haben. Hat der Mensch neben mir tatsächlich Interesse für mich als Person mit meinen Gefühlen und Nöten oder geht es zwischen uns um Meinungen, Rechthaben und Durchsetzung?
Sicherlich spielen Aspekte wie Meinungen etc. in jeder Beziehung eine Rolle, aber wenn es in meinem Leben unsicher wird, ist es wesentlich, dass ich mich auf das Interesse der anderen Person für meine Gefühle verlassen kann. Und umgekehrt ist es wichtig, dass auch mein Gegenüber mein Interesse für ihre:seine Gefühle spürt. Wenn in einer Gruppe lediglich die unterschiedlichen Sachargumente zählen, sind Konflikte mit Vorwürfen und Verletzungen nicht zu vermeiden. Wenn es beim Familientreffen zur Weihnachtszeit nicht möglich ist, sich über die Freude und das Beisammensein und das Interesse für die Empfindungen des oder der anderen zu interessieren, würde ich mir ernsthaft überlegen, ob ich da diesmal hingehen will. Wenn ich wüsste, ich könnte der Diskussion mit meinem Bruder über die Frage, ob es richtig ist, dass ich mich impfen lasse oder nicht, nicht ausweichen, weil wir das Thema einfach nicht beiseitelegen können, würde ich lieber zu Hause bleiben. Und es würde mir sehr weh tun, weil es mich interessieren würde, mit ihm darüber zu reden, wie es ihm mit der aktuellen Lage geht, ob er Ängste oder Sorgen hat. Ob es ihn irritiert, wenn ich ihn diesmal lieber nicht umarme, weil ich den Horror davor habe, zu erkranken. Wie es seinen Kindern geht, die in der Schule Masken tragen müssen, und was ihm derzeit Trost spendet, wenn Zuversicht so ein kostbares und schwer zu erreichendes Gut ist.
Es gibt oft unter Mitgliedern einer Familie Meinungsunterschiede und in vielen Fällen kann man miteinander diskutieren und das Gespräch nach einer Weile beiseitelegen. Aber manchmal, wenn die Themen an eine Ebene rühren, auf der ich mich zutiefst bedroht oder beunruhigt fühle, muss ich vorerst den direkten Kontakt meiden und versuchen mich vorsichtig anzunähern, wenn die Lage etwas entspannter ist. So ist das auch, wenn die Personen, mit denen ich zusammen sein möchte, sich bedroht fühlen.
Gerade in Familien ist das nicht immer leicht. So oft sind alte Konflikte und Muster in der Familie Zündstoff für Streit und Verletzungen. Dennoch lohnt es sich, hinzusehen und zu überlegen, ob es nötig ist, alte Grabenkämpfe beizubehalten oder ob nicht doch das Gemeinsame und die Zugehörigkeit überwiegen könnten. Mir fällt wieder jener ältere Herr ein, der mir erzählte: “Wir haben gerade zu Beginn der Pandemie unter Geschwistern gestritten wie selten zuvor, bis ich erkannte, dass ich niemand anders habe als meine Geschwister. Ich bin dann zu meinem Bruder gegangen, der das auch so sehen konnte und erleichtert war, dass ich auf ihn zugegangen bin. Seither treffen wir drei Geschwister uns regelmäßig zum gemeinsamen Essen. Und auch wenn wir nicht einer Meinung sind, können wir uns darüber unterhalten, wie es jeder und jedem von uns geht.“
Ganz Ähnliches widerfährt mir mitunter im engsten Freundeskreis.
Gerade heute ist es so wichtig zu erkennen, was mich von Menschen trennt, die mir viel bedeuten und welcher Weg mich zu ihnen führt. Zu sehen, was für diese Mitmenschen bedrohlich ist, lässt mich überlegen, ob ich auf meiner Position beharren muss, oder ob ich die Gefühle des/der anderen respektieren kann, ohne mich zu verbiegen. Wie kann ich achtsam mit der Tatsache umgehen, dass meine vom Krebs genesene Freundin nicht mit dem Bus fahren will? Und was brauche ich, damit ich nicht übersehe, was ihr Angst macht? Wie gehe ich mit meinem Drang um, ihr ihre Angst mit guten Argumenten auszureden? Wie kann ich ihr Gefühl achten und gut sein lassen?
Mit diesen Gedanken wünsche ich allen eine friedliche Weihnachtszeit und dass Verbundenheit gelingen kann. Ich wünsche euch Beharrlichkeit, wenn der Kontakt nicht leicht ist und Hoffnung, die den Advent so besonders macht.
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