Wir sind alle Expert*innen, denn wir leben ständig in vielfachen Beziehungen. Gerade deshalb reizt es mich darüber nachzudenken.
Unser Sein in dieser Welt verdanken wir einer Beziehung, wie kurz diese auch gewesen sein mag. Und von dem Moment an, in dem wir das Licht der Welt erblicken, leben wir in einer Symbiose-Beziehung.
Als Kleinkinder, als Schulkinder, als Jugendliche und als Erwachsene leben wir in einem Geflecht von Beziehungen. Ist dieses Geflecht am Anfang noch ein einzelner Faden, der uns mit unserer Mutter verbindet, erweitert sich dieses zunächst um wenige Menschen, die zu unserer Mutter in enger Beziehung stehen. Und es weitet sich mit jedem Lebensmoment: Es kommen weitere Menschen hinzu: Familienmitglieder, Freunde und Menschen, die die Familie unterstützen, dann Tageseltern oder Kita-Pädagog*innen und so fort.
Das Beziehungsgeflecht dehnt sich auch auf andere Wesen aus: Tiere, Kuschelwesen, Pflanzen und auch Unbelebtes, Spielzeuge, Geräte und Werkzeuge aus dem Umfeld: aus Küche, Garten, Spielplatz, …
Von Anfang an ist es ein Differenzierungsprozess, in dem der kleine, wachsende Mensch von einer symbiotischen zu einer differenzierten, persönlichen Wahrnehmung der Welt gelangt. Von Anfang an ist es also auch eine Frage der Selbst-Wahrnehmung und der Selbst-Entwicklung. Wir Bezugspersonen spiegeln das Kind, reagieren auf es und gehen mit ihm in Resonanz. Wie wir das tun, ist immens wichtig, weil es die Entfaltung des Kindes beeinflusst und prägt.
Liegt hier der Kern des existentiellen Konfliktes zwischen Kooperation und Integrität? Entsteht bereits hier, in diesen Momenten des Kontaktes oder eben auch des Nicht-Kontaktes jenes Gefühl „ich bin in Ordnung, das, was ich tue/bin ist willkommen bzw. nicht willkommen?“ Mit großer Sicherheit können wir sagen, dass die Anerkennung dessen, was das Kind von Anfang an tut, die Integrität des Kindes stärkt. Die Anerkennung, dass etwas für ein Kind unangenehm oder gar schmerzhaft ist, erleichtert es ihm mit den erwachsenen Bezugspersonen zu kooperieren – und sei es, dass wir ihm etwas verweigern oder verbieten.
Fällt das Schlagwort Beziehungen, denken wir sofort an das, was zwischen zwei oder mehreren Menschen passiert. Allerdings ist gerade die Beziehung zwischen Menschen stark davon beeinflusst, welche Beziehung ein Mensch zu sich selbst hat und welche er zu seiner Umwelt hat.
Wie sieht die Beziehung zu mir selbst aus? Bin ich ständig auf der Hut, um mich „richtig“ zu verhalten? Stehe ich selbstbewusst zu meinen Entscheidungen und vertrete sie mit Kraft? Sehe ich andere Menschen als Bedrohung oder kann ich ihnen mit Empathie und Mitgefühl begegnen?
Und woher kommt dieses Gefühl mir selbst gegenüber? Habe ich von Kind auf gelernt, mich selbst emotional zu versorgen? Musste ich als Kind um jede kleine Anerkennung ringen? Wurde ich oft übersehen oder „falsch gemacht“?
Wie habe ich gelernt mit dem existentiellen Konflikt zwischen Kooperation und Integrität umzugehen? Jeder Mensch hat seine Grenzen, auch wenn diese flexibel und veränderlich sind. Wenn ich gezwungen war, die eigene Unversehrtheit, d.h. Integrität aufzugeben, heißt dies, dass meine Grenzen missachtet wurden. Das kann in Bezug auf das, was mir sehr wichtig ist, gewesen sein oder auf meine Gefühle oder gar auf meinen Körper. War ich gezwungen, meine Grenzen aufzugeben, um überhaupt sein zu dürfen, und kenne diese Grenzen also auch als erwachsene Person nicht? Oder gab es Menschen in meinem Umfeld, die mich bedingungslos annahmen, wie ich bin, ohne dass sie verlangten, dass ich mich verbiege?
Kann ich liebevoll, wohlwollend auf mich blicken, auf meine Eigenschaften mit ihren Licht- und Schattenseiten? Oder ist mein innerer Richter mit Macht und Strenge ausgestattet worden, so dass jedes Versagen oder gar schon jeder Zweifel zur Selbstverurteilung führt?
Auch die Beziehung zu meiner Umwelt – jenseits der Menschen, die diese bevölkern – prägt mein Sein. Kann ich mit Dankbarkeit und Liebe auf Pflanzen, Tiere, Landschaft blicken oder sind diese eine Bedrohung für mich? Oder ein neutrales Etwas? Oder gar die Erde, die ich mir untertan machen kann? Ist Natur ein Kraftquell für mich oder etwas, das ich zähmen und gefügig machen kann? Bin ich eng verbundener Teil der Welt, mit der ich verwoben bin oder bin ich hineingeworfen in diese Umwelt?
Ich erlebe immer wieder, dass es sich lohnt, mich kennen zu lernen, mit mir vertraut zu werden und einen Einklang mit mir zu suchen, um tragende Beziehungen mit meinen Mitmenschen zu gestalten.
Freilich ist nicht gesagt, dass alles, was ich in bester Absicht tue, auch so ankommt. Entscheidend ist, was mein Tun beim Anderen bewirkt. Und das kann gelegentlich etwas völlig Anderes sein, als das was ich beabsichtigte.
Überwältigt mich die Reaktion der anderen Menschen und raubt mir den sicheren Stand? Oder kann ich aufrecht stehen bleiben, weil ich zu mir stehe?
Es lohnt sich, mich mit mir auseinanderzusetzen, um im Miteinander ich zu sein.
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