Wir sind alle Expert*innen, denn wir leben ständig in vielfachen Beziehungen. Gerade deshalb reizt es mich darüber nachzudenken.
Wieviel Freiraum brauchen Kinder? Viele junge Eltern stellen sich diese Frage heutzutage. Sie ist sozusagen im Mainstream der Kindererziehung angekommen.
Mir sind in den letzten Wochen viele Gedanken durch den Kopf gegangen und vieles war nicht leicht. Ein Tagebucheintrag und der darauffolgende innere Prozess begleitet mich aber bis heute, und ich will Euch an diesen Gedanken teilhaben lassen.
Ich erlebe, wie in letzter Zeit immer häufiger in mir die Frage auftaucht: Was für einen Sinn haben die Entscheidungen, die unsere politischen Führungskräfte treffen? Mein Vertrauen in die politische und die Verwaltungsspitze schwindet zusehends.
Eine wichtige Überlebensstrategie in der Krise ist die, Positives zu finden, etwas, das uns Hoffnung macht: Das gibt Zuversicht und eine Perspektive. Darüber hinaus richten wir so unseren Blick auf unsere Ressourcen – und auch das ist in belastenden Ausnahmesituationen lebenswichtig!
"Schlag den Kühlschrank nicht so zu! Es reicht! ich habe genug von deiner Wut. Ich ertrage das nicht mehr! Krieg dich endlich in den Griff!
"Ich?! Du bist derjenige, der seine Wut in den Griff bekommen sollte. Du musst mich nicht immer so anschreien. Das habe ich von dir gelernt!!!"
"Geh in dein Zimmer!!!!"
Der Vorwurf meines Sohnes wirft mich aus dem Gleichgewicht. Was bringe ich ihm bei? Kann ich überhaupt gut mit meiner Wut umgehen, oder mache ich es ganz falsch? Zeige ich meine Grenzen oder explodiere ich einfach, weil mir alles zu viel ist? Für mich ist Wut nicht nur die mächtigste Emotion, sondern auch die verwirrendste und eine, mit der ich immer noch kämpfe, sie richtig wahrzunehmen und in effektive Handlungen zu kanalisieren.
Im ersten Teil dieses Blogs haben wir uns angesehen, wie Wut zu Unrecht für aggressives Verhalten und Konflikte verantwortlich gemacht wird. Wir haben gesehen, dass Wut starke emotionale Signale sendet, dass etwas Verletzendes, Bedrohliches oder Unerwünschtes geschieht und dass wir handeln sollten, um die Situation zu ändern. Dieses Tun ist der zweite Teil der Wut und kann entweder zu dem konstruktiven Ergebnis führen, das wir einen Wunsch formulieren, z. B. dass unsere Kinder beim Aufräumen helfen oder jemanden stoppen, der etwas Verletzendes tut, oder sie kann destruktiv sein und die Grenzen des anderen überschreiten. Dann verschlimmert sie die Situation, z. B. wenn wir völlig durchdrehen, weil uns eine Kleinigkeit triggert.
Wovon hängt es also ab, ob wir in der Lage sind, das Signal der Wut in eine konstruktive Handlung umzuwandeln?
Unser autonomes Nervensystem reguliert unsere Fähigkeit, sinnvoll auf einen Wutanfall oder eine andere starke Emotion zu reagieren oder sich davon zu erholen. Nun, wenn es dir wie mir geht, dann verunsichert dich das Lesen solcher medizinischer Begriffe vielleicht und lässt dich hier abschalten (=nicht weiterlesen). Aber vielleicht hast du auch den Verdacht, dass dein Körper manchmal selbstständig reagiert und du das nicht einfach willentlich unter Kontrolle bekommen kannst.
Hier hilft mir die Arbeit von Stephan Porges und seine Polyvagal-Theorie (ja, noch ein schwieriger Begriff, aber ich erkläre ihn gleich), mich und meinen Umgang mit Ärger, aber auch jenen der Menschen, die ich begleite, zu verstehen.
Die Polyvagal-Theorie besagt, vereinfacht gesagt, dass unser autonomes Nervensystem drei verschiedene Zustände kennt, die uns auf spezifische Weise schützen, aber auch unsere Reaktionsfähigkeit verändern:
Im gesunden Zustand pendeln wir zwischen dem entspannten und dem aktivierten Zustand hin und her, je nach unserem persönlichen Level an innerem Stress und Erregung. Das Problem ist, dass wir uns das nicht einfach "aussuchen" können, sondern dass unser Körper aufgrund der aktuell wahrgenommenen Gefühle und unserer Lebenserfahrungen autonom reagiert.
Wenn ich zum Beispiel zu spät zu einem Termin komme oder wenn mein Sohn mir vorwirft, ein schlechter Vater zu sein, verletzt mich das. Ich fühle ich mich innerlich aufgewühlt, mein Herzschlag erhöht sich, ich bin gestresst. Selbst wenn ich weiß, dass die Situation nicht kritisch, nicht lebensbedrohlich ist, versetzt mich mein Körper trotzdem in einen Zustand der Erregung. Mir einfach zu sagen, dass ich mich nicht stressen oder ruhig bleiben soll, funktioniert nicht. Mein Körper hat die Kontrolle.
Jeder Mensch hat ein anderes Maß an innerer Regulationsfähigkeit, basierend auf seinen Lebenserfahrungen und erlebten psychischen Verletzungen. Wenn mein Sohn wütend auf mich ist, dann reagiert mein Körper so, als ob eine viel größere Gefahr bestünde, als es der Fall ist und aktiviert sehr schnell meine Kampf-Flucht-Reaktion. Ich kämpfe oder gehe weg, obwohl mein Verstand weiß, dass ich eindeutig nicht in Gefahr bin und die Situation eine andere Reaktion erfordert.
Können wir also unsere automatische Stressreaktion ändern, um unsere Wut konstruktiver in Beziehung zu bringen? Können wir eine Art und Weise finden, die uns hilft “runter” zu kommen?
Hohe Erregung beginnt autonom in unserem Körper, aber das bedeutet nicht, dass wir uns die Führung nicht zurückholen können. Wenn wir eine starke Welle der Wut spüren, können wir unser Bewusstsein nach innen richten und beginnen, das wahrzunehmen, was in unserem Körper passiert. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass wir uns in einem Zustand der Erregung befinden - zu bemerken, dass unser Herzschlag erhöht ist, dass unsere Atmung schnell und flach ist, dass wir angespannt sind, bereit zum Kampf oder zur Flucht.
Dann können wir aktiv damit beginnen, unsere körperlichen Reaktionen zu verändern. Das ermöglicht, dass wir die Kontrolle zurückzugewinnen und uns regulieren. Beginne damit, deine Atmung zu vertiefen, löse vielleicht deine Fäuste und strecke deine Finger, reibe deinen Nacken und entspanne deinen Kiefer, wackle mit den Zehen und spüre, wie deine Füße fest auf dem Boden stehen. Einige dieser Handlungen tun wir intuitiv, in einem stressigen Moment fahren wir oft mit den Händen durch die Haare oder massieren unseren Nacken. Wir können nicht kontrollieren, wie stark wir das Signal empfinden, aber wir können aktiv den Weg zurück in einen entspannten Modus suchen, indem wir unser Gefühl der Verbindung zu unserem Körper verändern.
Es überrascht mich immer wieder, wie anders andere auf mich reagieren, wenn ich aus einem Zustand der Verbindung mit mir selbst heraus reagiere. Ein festes "Nein" oder ein "Bitte hilf mir beim Aufräumen" aus diesem Raum der Selbstanbindung scheint Wunder zu wirken. Ich fühle mich immer noch stark und sicher in dem, was ich will, aber nicht mehr aus dem Gleichgewicht und verzweifelt. Mein Ärger hat sich von einem aggressiven Ausbruch zu einer konkreten Bitte um Veränderung gewandelt.
Ein wichtiger Teil der Selbstregulierung ist auch, freundlich zu uns selbst zu sein. Wenn unsere Kinder laut und fordernd sind, ist es normal, dass wir wütend werden und das Gefühl haben, dass es zu viel ist. Wenn mein innerer Dialog freundlich ist, wenn er Verständnis für das hat, was vor sich geht, hilft er mir, mich wieder mit mir selbst zu verbinden. Ich benutze oft die Worte: "Es ist in Ordnung, dass du gerade total überfordert bist, es ist schwierig, zu Hause festzusitzen, es ist schwierig, ein Kind alleine großzuziehen, es ist in Ordnung, dass es zu viel für dich ist, du bist kein Übermensch, du hättest jetzt gerne Hilfe, aber es gibt keine, also ist es in Ordnung, dass du dich überfordert fühlst". Dieser kurze Dialog anerkennt und würdigt meine eigenen Gefühle der Überwältigung, lässt zu, dass sie da sind, ermöglicht, dass ich sie fühle und hilft mir, mich innerlich zu entspannen.
Nimm dir einen Moment Zeit, um es für dich selbst auszuprobieren. Denke an etwas, das dich wütend macht, vielleicht ist es die Corona-Situation, deine Arbeit, die Kinder oder dein Partner. Was auch immer es ist, erlaube der Wut, da zu sein, sage dir, dass es ok ist, dass du wütend bist, dass du überwältigt bist, dass du dich so fühlst und dass es sowohl erlaubt als auch angemessen ist, dass du kämpfst. Spürst du die Veränderung? Du kannst diesen Dialog mit dir selbst fortsetzen, bis du spürst, wie sich die Spannung in deinem Körper ein wenig entspannt.
Versuche nun das Gegenteil. Sage dir, dass die Dinge nicht so sein sollten, dass du in der Lage sein solltest, das zu bewältigen, dass dein Partner, die Kinder, die Regierung nicht so sein sollten, dass es nicht in Ordnung ist und dass du verrückt werden wirst, wenn sich nichts ändert. Wie fühlt sich das an? Merkst du den Anstieg der inneren Erregung und Spannung?
Indem wir freundlich zu uns selbst sind und unsere Gefühle zulassen, ermöglichen wir unserem Körper, sie zu spüren und unser Körper weiß, wie er sich selbst reguliert, wenn wir es zulassen. Wenn das Gefühl sehr stark ist, hilft es, sich daran zu erinnern, dass Gefühle einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Und auch wenn es sich so anfühlt, als würden sie sich nie ändern, ist der schnellste Weg, den wir ohne Hilfe anderer Menschen zur Beruhigung einschlagen können, sie anzuerkennen und in einen freundlichen inneren Dialog mit ihnen zu treten.
Manchmal bin ich überfordert, wenn ich daran denke, dass ich nicht nur meine Wut regulieren, sondern auch für mein Sohn da sein sollte, wenn er von starken Gefühlen überwältigt wird. Es hilft, mich dann zu erinnern, dass Muskeln auch nicht von heute auf morgen aufgebaut sind, sondern durch regelmäßiges Training und Anstrengung. Das gleiche gilt für emotionale Muskeln. Das macht mir Mut, da freue ich mich fast auf die nächste Möglichkeit zu trainieren…fast :-). Und vielleicht schaffe ich es nächstes Mal, wenn der Kühlschrank nicht das enthält, was mein Sohn mag, ein paar Mal tief zu atmen, mich selber wieder zu spüren, ein inneres Anerkennen, dass es mich aufregt und dann… dann meinen Sohn zu bitten, mich nicht gleich anzuschreien, sondern mir aufzuzählen, was er gerne im Kühlschrank hätte.
Was!?! Schon wieder ein Lockdown! Nicht a mal zu Silvester dürfen wir Freunde treffen! Ich halts nicht aus! Mir ist es jetzt schon zu viel. Ständig nur daheim im Familienkreis, mein Frust-Niveau ist schon am Limit! Ganz davon zu schweigen, dass ich einen Teenager daheim habe, der auch kurz vor dem Durchdrehen ist. Noch 3 Wochen! Wie soll das gehen? Wie sollen wir die Weihnachtstage und den nächsten Lockdown überstehen, ohne dass wir uns gegenseitig umbringen?
Es ist wieder Abend geworden. Zeit zum Schlafen gehen. Ich schätze diese Zeit. Sie schenkt mir einen bewussten Moment, um mit meinem Sohn verbunden zu sein. Nur wir zwei unter der Kuscheldecke. Wir lesen in einem Buch und plaudern über den Tag. Wir werfen einen Blick zurück, auf das, was war: das Wertvolle würdigen und Unangenehmes aussprechen und loslassen. Diese Zweisamkeit beruhigt mich und ihn und wiegt uns wie ein sanftes Schaukeln hinein in die Nacht.