Mein Telefon klingelt. Eine neue Nachricht im Familienchat. Schon wieder ein Link zu einem Video.
Ich habe die Videos so satt. Nicht die lustigen. Sondern diese Videos, die vorgeben, zu erklären, was wirklich hinter den Kulissen vor sich geht. Die vorgeben, die Antworten zu kennen, oder vor Dingen zu warnen, die noch kommen werden.
Ich möchte sie ignorieren, wie schon viele Videos davor. Aber meine Neugierde siegt. Vielleicht hat dieses Video doch etwas Gutes oder Neues zu sagen.
Ich klicke und schaue.
Ich habe mich geirrt.
Schon wieder.
Es ist ein weiteres Video, das behauptet, die Wahrheit hinter der US-Wahl zu kennen, Politiker werden aller Arten von Geheimbünden beschuldigt, mit dem Teufel paktiert, Trump als Retter und Biden als Kinderschänder. Ein weiteres Qanon-Video. Argh!
Das ist zu viel für mich!
Es macht mich so wütend! Wie kann sich jemand diesen Unsinn ansehen? Wie oder warum wollen sie es teilen? Haben sie keine Selbstachtung?
Ich schreibe eine vernichtende Antwort. Bin bereit, in einen kompromisslosen Konflikt zu gehen! Aber kurz bevor ich auf Senden drücke, schaffe ich es, mich für einen Moment zurückzuhalten... gerade lange genug, um noch einmal zu überlegen, ob es hilfreich ist... gerade lange genug, um dann doch zu entscheiden, die Nachricht später zu senden. Vielleicht mit etwas weniger Aggression.
Eine Pandemie des Misstrauens
Verschwörungstheorien gibt es seit Jahrhunderten. Sie nehmen tendenziell zu, wenn Unsicherheit, Angst und Frustration groß sind. In den 1920er Jahren kursierten zum Beispiel Theorien, dass die Spanische Grippe durch das in Deutschland hergestellte Aspirin verbreitet wurde. Es schien eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem zu sein und machte sogar Sinn, denn damals waren die Deutschen die „Bösen“.
Da die gegenwärtige Situation eine der extremsten ist, die viele von uns in ihrem Leben erlebt haben, schafft sie einen fruchtbaren Boden für alle möglichen Theorien zur Erklärung der Ereignisse. Von denen, die berechtigte Bedenken aufwerfen, bis hin zu extremen Verschwörungstheorien. Jede Erklärung scheint besser zu sein als keine. Und es ist nicht nur Corona. Die globale Erwärmung, die Wahlen in den USA, Impfungen - all das sind Themen geworden, die uns polarisieren und spalten.
Und es ist diese zweite Pandemie, das Säen von Misstrauen und Spaltung in unseren Familien, Freundschaften und Gemeinschaften, die potenziell gefährlicher ist als das Virus selbst und das Potenzial hat, das verbleibende Vertrauen zu untergraben, das wir in unsere Politiker, Institutionen und Führungsgremien haben.
Das wirkliche Problem sind Gespräche, die uns trennen
Den ganzen Tag über arbeite ich gedanklich weiter an meiner vernichtenden Nachricht. Ich erkläre, wie diese Verschwörungsvideos unsere mentalen und emotionalen Vorannahmen ausnutzen, wie sie falsche Kausalzusammenhänge schaffen und die Komplexität schwieriger Probleme mit ihren vereinfachenden "Bösewicht"-Lösungen völlig übersehen.
Und dann dämmert es mir. Mir wird klar, dass mein vernichtender Angriff nur noch mehr von dem gleichen ist. Eine andere Meinung, die behauptet, Recht zu haben. Dass das eigentliche Problem nicht das ist, worüber wir diskutieren, sondern wie wir uns begegnen und sehen. Diese "Ich habe Recht und du Unrecht"-Diskussionen sind Gespräche, die uns trennen, die polarisieren.
"Ich habe gehört, dass die Corona-Impfung ein Plan von Bill Gates ist, unsere DNA genetisch zu verändern und das Bevölkerungsproblem zu lösen".
"Warum glaubst du solchen Unsinn?".
"Du solltest nicht abtun, was ich sage. Du bist so leichtgläubig und glaubst alles, was dir die Mainstream-Medien erzählen".
"Du kannst doch nicht alles glauben, was du auf YouTube und Facebook siehst.
"Du wurdest einer Gehirnwäsche unterzogen.
"Ich!!!! Du bist so engstirnig!!"
Es sind schwarz-weiß, richtig-und-falsch Gespräche. Wir beginnen, uns gegenseitig als das Problem zu sehen. Und wir übersehen dabei, dass wir alle Menschen sind, die mit der massiven Zunahme an Komplexität und Unsicherheit zu kämpfen haben.
Wir übersehen, dass wir alle Klarheit und Gewissheit suchen. Und dass Erklärungen, so weit hergeholt sie auch erscheinen mögen, uns ein gewisses Gefühl der Sicherheit, ein gewisses Gefühl der Kontrolle oder vielleicht sogar ein gewisses Gefühl der Sinnhaftigkeit vermitteln, weil wir gegen etwas – den „Feind“ ankämpfen können..
Aber letztlich gelingt es diesen Gesprächen nicht, uns das zu geben, was wir in Zeiten der Ungewissheit so verzweifelt brauchen. Sie tragen nicht dazu bei, uns als menschliche Wesen miteinander zu verbinden. Sie stärken nicht unsere Würde.
Gespräche, die verbinden
Was wäre, wenn wir anfangen würden, Gespräche darüber zu führen, wie sich die Unsicherheit anfühlt und wie sie uns beeinflusst? Gespräche über unsere Angst und Sorge, dass Regierungen die falschen Entscheidungen treffen, über unsere Frustration über den Lock-down. Gespräche darüber, dass wir mit dem schnellen Tempo des Wandels und der Unsicherheit kämpfen und dass wir uns über soziale Ungleichheit ärgern.
Gespräche, die sich vielleicht eher so anhören...
"Ich habe gehört, dass die Corona-Impfung ein Plan von Bill Gates ist, unsere DNA genetisch zu verändern und das Bevölkerungsproblem zu lösen".
"Oh das klingt bedrohlich. Bist du unsicher, ob die Impfungen sicher sind? Oder, dass du gezwungen wirst, Impfungen zu machen".
"Ja, ich mache mir wirklich Sorgen. Es geht alles so schnell, und jeder sagt etwas anderes. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Und ich bin auch sehr wütend, dass die Regierung so polizeistaatlich agiert."
"Ja, es ist ziemlich schwer, nicht wahr? Alles fühlt sich so unsicher an. Ich habe auch damit zu kämpfen... obwohl ich eigentlich weniger wütend werde und eher Angst habe, ehrlich zu sein."
Solche Gespräche, gehen tiefer. Sie verbinden, sich mit unseren Gefühlen. Es sind Gespräche, die versuchen, den anderen als Person zu sehen und zu verstehen. Gespräche, die uns letztlich ein Stückweit Sicherheit geben, nicht durch vereinfachende Schwarz-Weiß-Lösungen, sondern durch unsere Verbindung miteinander als Menschen.
Hier ein Tipp von mir: Wenn du das nächste Mal einen Link oder ein Video erhältst, das für dich befremdlich ist, nimm das Telefon in die Hand und ruf die Person an. Nimm dir das Telefon in der Hand und ruf diese Person an. Wie geht es ihr? Ist sie glücklich? Fühlt sie sich gesehen? Wie geht sie mit all der Unsicherheit um? Das alles kann man tun, statt die konträre Meinung zurückzuschießen oder die Person als verrückt abzutun.
Sieh sie als das, was sie ist – eine Person – und nicht als das, was sie teilt oder glaubt.
Und vielleicht stellen wir fest, dass wir unter der Oberfläche doch nicht so verschieden sind, dass wir alle Angst, Wut und Traurigkeit erleben. Ja, vielleicht suchen wir an verschiedenen Orten nach Antworten, aber letztlich wollen wir alle gesehen werden, uns sicher und anerkannt fühlen. Und vielleicht entdecken wir auch, dass wir uns auf der Herzensebene verbinden können und dass dieser Moment der Verbindung es ein wenig leichter macht. Leichter, mit all der Unsicherheit, Ungleichheit und dem Überlebenskampf, der uns umgibt, umzugehen.
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Am Gespräch teilnehmen...
Welche Erfahrungen hast du damit gemacht, mit Menschen über die Verschwörungsvideos zu sprechen, die sie weitergeben?
Beschenkt! So fühle ich mich nach unserem Familienwochenende in Wagrain. Auch wenn bei meiner Familie zu Beginn die Zweifel groß waren, ob wir uns als Familie beraten lassen sollen, haben wir es nicht bereut, den inneren Schweinehund überwunden zu haben.
Man kann es so schwer in Worte fassen, aber jene schwierigen Momente, in denen echter Kontakt entsteht, empfinde ich immer wieder als magisch und heilsam. Ohne Unterstützung von außen wäre es nicht möglich gewesen! Auch wir erleben immer wieder diese Momente, in denen ein Schalter umgelegt wird und das Ping-Pong-Spiel zwischen uns beginnt und die Wertschätzung und Empathie für den/die anderen verloren geht. Genau an so einem alltäglichen Beispiel haben wir gearbeitet. Wir haben uns erinnert und versucht einzufühlen.
Mit Unterstützung versuchten wir zu verstehen, welche Dynamik hier in unserer Familie abläuft, in dem sich dann leider am Ende alle fünf als Verlierer fühlen. Es ist gelungen! Auch jetzt, eine Woche danach, spüren wir als Eltern, dass in unserer Familie etwas anders ist. Im positiven Sinn. Den Satz: „Es ist alles so unfair und ungerecht“ habe ich von meinen Kindern schon länger nicht mehr gehört. „Nie hörst du MIR zu“, ist auch nicht mehr so oft gefallen. Ich glaube in unserem Counseling haben die Kinder gespürt, dass wir Eltern manchmal überfordert sind, es uns aber nicht egal ist, wie es unseren drei Kindern geht. Sie haben gesehen und gespürt, dass wir versuchen etwas zu verändern und an uns arbeiten. Ich denke diese Tatsache entlastet sie. .... Mal schauen wie es sein wird, wenn doch wieder einmal wie durch Zauberhand der Schalter umgelegt wird und das Ping-Pong-Spiel beginnt…….. Aber das ist eine andere Geschichte.
Auch aus Sicht des Family Counselors fühle ich mich beschenkt, da ich die Gelegenheit bekam eine Familie in ihrem schwierigen Prozess zu begleiten. Diese ersten Erfahrungen in einem neuen Setting (jetzt arbeiten wir mit der ganzen Familie) finde ich immer besonders wertvoll. Die Momente, in denen in mir die Nervosität aufsteigt und ich glaube nicht mehr weiter zu wissen. Jene Momente, in denen wieder kurz der Gedanke kommt, „ICH muss ihnen helfen“ und der Kontakt abbricht.
Ich fühle mich dann von der Situation überfordert und es kommen Gedanken wie: „Hilfe! Mir sitzen ja drei Menschen gegenüber! Und ich soll alle spüren und wahrnehmen!? Eh klar, dass das, was zwischen ihnen unsichtbar abläuft wichtiger ist, als das was sie sagen! Aber was jetzt!?“….
Meine Gedanken würden vielleicht immer weiter kreisen und ich würde den Kontakt zu mir selbst immer mehr verlieren, aber ich weiß ja, da sitzt noch jemand. Heute ist es Svend, auf den ich als Live-Supervisor zurückgreifen kann. Auf ihn kann ich mich verlassen, bei ihm darf ich laut denken. Ich spreche alles aus, was mir gerade durch den Kopf schießt und was ich gerne sagen würde. Siehe da, und plötzlich sortieren sich meine Gedanken und Gefühle und ich spüre, was ich als nächstes zur Familie sagen möchte.
Es bleibt immer ihre Entscheidung, ob sie meinen vorgeschlagenen Weg entlang gehen oder ob sich durch unser Gespräch ein neuer Weg auftut, der noch mehr der ihre ist. Das entlastet mich. Ich gebe alles, was ich zur Verfügung habe, um ihnen dabei behilflich zu sein ihren eigenen Weg zu gehen. Nach der Beratung gehen mir noch Fragen durch den Kopf und mich beschäftigt, was ich noch sagen oder machen hätte können. Aber ich versuche zufrieden mit mir und dem Erreichten zu sein. Es ist ein Weg den ich gehe, ich bin hier, um zu lernen...
Kinder können ihre Meinung sagen, ihren Frust äußern und sich einbringen, aber für die Atmosphäre im Gespräch sind wir Eltern zuständig.
Kinder können ihren Schmerz und Unmut ausdrücken,
aber dass wir dabei im Kontakt und zugewandt bleiben,
dafür muss ich als Elternteil sorgen.
Kinder können hören und verstehen,
aber dass das, was ich zu meinem Kind sage, auch ankommt,
liegt daran, wie ich mich ausdrücke und wie ich Raum zum Hören schaffe.
Kinder können mitbestimmen und ihre Anliegen einbringen,
aber sie sind nicht dafür verantwortlich, wie es uns als Familie geht.
Mit Ernsthaftigkeit und Klarheit vermittelten unsere Lehrtherapeuten diese Haltung. Klar und deutlich zog sich der rote Faden VERANTWORTUNG durch das Familienwochenende.
Ja, ich möchte als Elternteil Verantwortung übernehmen:
für die Stimmung in unserer Familie,
für die Qualität unserer Beziehung,
für mich und meine Gefühle,
für meine Werte und mein Handeln.
Doch wie drückt sich das im Alltag konkret aus?
Wie kann ich in schwierigen Situationen, die Verantwortung für mich und die Beziehung übernehmen?
Wie gelingt es mir, Verantwortung für meine Gefühle, Bedürfnisse und meine Stimmung zu übernehmen?
Wie geht das?
Das geht,
wenn ich bei mir bin und mich ernst nehme,
wenn ich sage, was ich spüre, denke und brauche,
wenn ich von mir spreche.
Ich bin müde, statt du bist anstrengend.
Ich bin verzweifelt, statt du bist nervig.
Wenn ich mich zeige, mit dem, was mich berührt.
Das setzt voraus, dass ich mich berühren lasse.
Dass ich meine Gefühle zulasse,
Dass ich hinspüre und hinschaue, was dahinter liegt.
Leichter wäre es, manchmal wegzuschauen.
Mich abzulenken, das Unwohlsein zu überspielen...
Dann müsste ich mich nicht äußern, dann bräuchte ich nicht Stellung beziehen und mich nicht mit mir und den unangenehmen Gefühlen auseinandersetzen.
Dabei kann es so befreiend sein,
wenn ich benenne, was ist.
wenn ich mich zeige und mir erlaube,
meine Gefühle zu spüren und
sie in Worte zu fassen:
Ich bin gerade überfordert.
Ich weiß im Moment nicht weiter.
Es ist grad zu viel für mich.
Ich weiß grad nicht, wie ich dir helfen kann.
Ich weiß im Augenblick nicht, was ich will.
Wenn ich ausspreche, was bei mir los ist,
kann mein Gegenüber spüren, wo ich bin.
Das sorgt für Klarheit.
Das ist erleichternd.
Indem ich ausspreche, was ist, bleibe ich da.
Es kann etwas entstehen!
Kontakt, Dialog, Beziehung.
Ich will zugewandt bleiben,
Ich will den Kontakt halten.
Auch dann, wenn es schwierig wird.
Auch dann, wenn es unaushaltbar scheint.
Aushalten.
Aushalten, dass es manchmal schwer ist.
Aushalten, dass ich nicht weiter weiß.
Aushalten, dass es weh tut oder unangenehm ist.
Aushalten, dass auch das Liebe ist.
Aushalten und Halten.
Den Kontakt. Die Verbindung. Den Raum.
In dem wir sein dürfen,
mit dem, was das Herz bewegt.
Wo nichts sein muss und alles sein darf.
So wie es grad ist.
Schwierig, frustrierend, beklemmend.
Ja, so ist es grad, so sind wir da.
Ich muss nicht dagegen ankämpfen, muss es nicht abwehren,
es braucht keine Lösung und auch kein Happy End.
Das erleichtert und erdet mich.
Das verbindet mich mit mir und meinem Gegenüber.
Dann kann ich mein Kind hören,
seine Anliegen und seine Bedürfnisse ernst nehmen
lauschen und hinspüren,
was es mir sagen will
ohne dabei in Angriff oder in Verteidigung zu gehen.
Ich kann ruhig bleiben,
in der Enge Weite finden
meine Verzweiflung da sein lassen und
mit meinem Kind in seinem Frust da sein.
Wenn da sein darf was ist,
kommt dieser Moment,
in dem die Kraft aufsteigt, die Energie wieder kommt
und sich neue Wege öffnen.
Ich komm wieder ins Handeln.
Ich kann spüren, was wir beide brauchen,
damit unsere Beziehung wieder nährend und verbindend wird.
Sogar dann, wenn die Themen schwer wiegen und mir Angst machen.
Je besser wir als Eltern unsere Grenzen kennen,
und je persönlicher wir sie zum Ausdruck bringen,
desto befriedigender wird unser Kontakt untereinander.
Das nehme ich mit.
Das öffnet mir einen Weg.
Kraftvoll. Klar.
Danke.
„Ich halt es nicht aus, wenn die Kinder ständig streiten! Das ist doch nicht normal! Haben wir etwas falsch gemacht?“
Als Family Counselor in Ausbildung sitze ich zum ersten Mal einer Familie gegenüber. Mutter und Vater sowie zwei von drei Kindern rutschen leicht nervös auf ihren Stühlen hin und her. Ein Stuhl ist leer. Er ist für die Jüngste, die sich lieber vom Rand zuschaut, während wir uns unterhalten.
„Wir waren gestern nach einem Fest alle so gut drauf, bis plötzlich die Stimmung kippte. Anna hat sich am Knie angestoßen. Ihr Weinen und Schreien haben Max voll genervt. Er hielt ihr „Theater“ nicht aus und explodierte. Und das alles direkt vorm Zubettgehen. Wir waren alle schon so müde. Warum muss das sein?“
Als Counselor bin ich auch leicht nervös. Obwohl wir schon so viele Counselings geübt und live miterlebt haben, ist es doch sehr ungewohnt vor vier Menschen zu sitzen und wahrzunehmen, was ihnen jeweils wichtig ist. Ich möchte ihnen helfen Klarheit zu finden, in dem emotionalen Labyrinth der Familiendynamik. Ich spüre einen inneren Druck, es gut machen zu wollen. Das lenkt mich ab und führt mich weg vom Kontakt mit den Menschen, die vor mir sitzen. Ich atme tief durch.
Ich lade auch die Kinder ein, ihre Sicht und Meinung einzubringen, falls sie etwas sagen möchten. Sie werfen sich gegenseitig einen kurzen Blick zu, und schenken mir ein etwas verlegenes Lächeln. Sie sind noch unsicher, ob sie etwas sagen wollen oder nicht.
Kurz ist es ruhig im Raum und dann sagt Max:
„ … Ja und dann ist die Mama wieder ausgeflippt.“
Ich sehe, wie der Papa nickt und die Mama in ihrem Stuhl leicht zusammensackt.
„Und ich bin dann immer diejenige, die es abkriegt“, ergänzt Elena leise. „Obwohl ich nichts gemacht habe! Das finde ich total ungerecht!“
Die Eltern schauen mich fragend an: „Was sollen wir nur tun?“
Es ist ein besonderes Lehrgangswochende.
Alle 10 Counselor in Ausbildung sitzen mit ihren Familien da. Alle sind neugierig, wie das hier abläuft. Wir sind ein bunter Haufen, aus verschiedenen Konstellationen: Patchwork-Familien, Kinder im Alter von 2 bis über 30, zwei Schwestern aus einer Ordensgemeinschaft und sogar ein großer Bernhardiner. Er beobachtet das ganze Geschehen von seinem Platz am Rand des Kreises. Ein Team aus Lehrsupervisor*innen und Assistentent*innen halten den Raum und begleiten uns. Wir sind hier, um die unsichtbaren Dynamiken in unseren Familien besser kennen zu lernen und zu verstehen. Wir wollen lernen, was es heißt mit Familien zu arbeiten und was es heißt, sich als Familie Hilfe zu holen. Jede Familie hat Zeit sich mit Fragen zu beschäftigen, wofür im Alltag kein Raum ist.
Als wir als Patchworkfamilie versuchen diese Fragen zu beantworten, kommt vieles an die Oberfläche. Sind wir überhaupt eine Familie? Wenn ja, wie sieht sie aus? Wenn nein, was sind wir dann genau?
Die Schmerzen von den Trennungen sind immer noch spürbar, obwohl sie jetzt über 5 Jahre hinter uns liegen. Auch die Kinder teilen ihre Themen mit: Konflikte und Unsicherheit in der erweiterten Familie, die Angst benachteiligt zu werden, Schwierigkeiten bei gemeinsamen Entscheidungen.
Die Themen sind vertraut, aber die Fülle überfordert uns. Eine Sache ist klar. Als Familie unterwegs zu sein ist nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen! Familie sein bedeutet auch Streit, Ärger, Schmerz und Leid.
Wieder zurück zu der Familie, die mir mit ihrem fragenden Blick gegenübersitzt.
Ich bin mir nicht sicher, wo wir als nächstes hinschauen sollen und bin dankbar für die Möglichkeit mich mit dem Supervisor, Svend aus Dänemark, zu unterhalten. In der Reflexion mit ihm überlege ich, welcher Schritt als nächster Sinn macht.
Ist die Mama überfordert, weil der Papa nicht unterstützt?
Fehlt es den Kindern an Aufmerksamkeit und sie kämpfen darum?
Fehlt eine gesunde Streitkultur in der Familie?
Wir steigen wieder in das Gespräch ein.
Es wird gemeinsam hingeschaut und erforscht welche Dynamiken das Zusammensein in diesen Situationen so schwer macht. Es zeigt sich, dass der Papa sehr wohl unterstützt und präsent ist. Die Kinder bekommen Aufmerksamkeit und im Großen und Ganzen, gibt es eine gesunde Familiendynamik. Außer bei solchen Streitereien. Da gerät etwas außer Kontrolle und es wird allen sehr schnell zu viel.
Immer wieder kommen wir im Gespräch auf die Streitkultur zurück.
„Mir ist das ständige Streiten zu viel."
„Ich mag nicht immer der Schiedsrichter sein."
„Ich will nicht, dass die Kinder so viel streiten. Das ist doch nicht normal."
Da kommt die ruhige Stimme von Svend, unserem Supervisor, der im Stuhl neben mir sitzt. „Aber auch das ist Liebe“
Kinder brauchen Streit, damit sie Beziehungskompetenz lernen können. Die Familie ist der einzige Ort, wo richtig hart gestritten werden kann und es trotzdem ein Ort der Liebe und Sicherheit bleiben kann. Es ist sehr, sehr wichtig, dass die Kinder selbst die Themen ausstreiten können. Für Eltern ist das oft sehr schwer auszuhalten.
Im Raum ist es plötzlich ruhig. Obwohl ich sie nicht direkt sehen kann, spüre ich die fragenden Blicke. Die meisten im Raum kennen diesen Gedanken aus den Büchern von Jesper Juul. Aber es in einer realen Situation zu erleben, zu spüren wie unmöglich es scheint diesen anzunehmen, geht tief rein.
Die Mama drückt sogleich aus, was sich sicher viele im Raum denken.
„Ja…aber ich mag das nicht. Ich halte das nicht aus. Es ist zu anstrengend. Ich will nicht, dass die Kinder so miteinander reden. Da muss ich doch etwas sagen… oder?"
„Aber Mama, wenn wir doch nur streiten, dann brauchen wir deine Hilfe nicht“, sagt Elena leise zu-ihrer Mama.
Svend nickt deutlich. Er schaut Elena an, mit einem bestätigenden Blick, lehnt sich zurück in den Stuhl und erklärt:
„Das Schwerste für Eltern ist, die Verantwortung. für das zu übernehmen, was man nicht geben kann oder will. Manchmal kann man einfach nicht mehr geben oder es ist zu anstrengend. Das ist OK. Eltern sind auch nur Menschen, die ihre Grenzen haben. Aber die Verantwortung für deine eigene Begrenzung, etwas auszuhalten zu übernehmen, ist sehr wichtig. Das heißt, dass du nicht nur deine eigenen Gefühle in dem Moment aushalten musst, sondern auch, wie die Kinder darauf reagieren und ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel, musst du wenn du „Nein“ sagst, aushalten, dass dein Kind wütend, traurig oder genervt reagiert. So lernen sie damit umzugehen. Und nur weil du sagst, es ist mir zu viel, heißt es nicht, dass die Kinder zu streiten aufhören sollen. Du musst für dich selbst die Verantwortung übernehmen. Wenn es dir zu viel wird, geh woanders hin. So bekommst du den Streit nicht mit.“
Der Counselor schaut zum Papa. „Wie geht es dir, wenn die Kinder streiten oder es einen Konflikt gibt? Kannst du das aushalten oder in solchen Momenten deiner Frau helfen, dass auch sie es aushalten lernt?“
„Ich kann damit ganz gut umgehen. Es nervt schon, aber es macht mich nicht total fertig.“
„Aber… das kann doch nicht die Lösung sein. Dass ich die Kinder streiten lasse? Muss ich nicht als Mama schauen, dass niemand verletzt wird, dass es nicht außer Kontrolle gerät?
„Deine Verantwortung in diesem Moment ist, gut für dich zu sorgen. Dass du die Kontrolle über dich nicht verlierst. Dass du es aushältst, dass deine Kinder die Verantwortung für ihre Konflikte übernehmen können und dass du deine Überforderung nicht auf die Kinder überträgst. Mehr musst du nicht machen. Aber das ist schon viel.“
„Das ist aber schwer. Ich mag es nicht, wenn sie Schimpfwörter verwenden. Kann ich da nichts tun?“
„Ja, Eltern sein ist manchmal schwer. Und Ja, du kannst sagen, dass du das nicht magst. Aber der Schiedsrichter solltest du nicht werden. “
Svend´s Botschaft ist klar und deutlich, es holt die Eltern in die Verantwortung. Gleichzeitig spüre ich seine große Empathie für die Eltern und was es heißt, diese schwierigen Situationen auszuhalten.
Was es heißt Familie zu sein...
Ich verlasse, das Familienwochenende mit einer tiefen Bewunderung für Familien. Obwohl Familie sein oft schwierig ist, ist es auch etwas Besonderes. Etwas, das Zugehörigkeit in guten und schlechten Zeiten gibt. Ich bin erstaunt, wie gut die Kinder wissen, was sie brauchen, und wie gut sie das auch zum Ausdruck bringen können, wenn wir ihnen zuhören. Ich spüre den Wunsch, auch meinem Sohn genauer zuzuhören und seine Perspektive zu verstehen.
Und gleichzeitig arbeitet es in mir nach.
Es ist klar das Kinder sehr wohl Verantwortung für sich und ihre Aufgaben übernehmen können und wollen, wenn man sie lässt. Viel mehr als wir es ihnen zumuten. Das haben die vielen Gespräche immer wieder gezeigt. Es ist aber auch klar, dass die Eltern für ihren Anteil die Verantwortung übernehmen müssen. Für ihre Emotionen und Gefühlen, für ihre Überforderung und für ihre begrenzten Kapazitäten. Wenn dieses nicht geschieht, dann sind alle überfordert.
Und mir ist klar, dass diese Grenzen sich immer wieder vermischen werden und sich manchmal Überforderung breitmacht, wenn die Verantwortung mal wieder nicht übernommen wird. Aber man kann sich entschuldigen. Es kommt wieder zur Versöhnung. Vielleicht bedeutet genau das, Familie zu sein. Gemeinsam zu wachsen!
Das Familienwochenende, das zum Family Counseling Lehrgang der IGfB gehört, wie Schnee zum Winter in den Bergen oder Kuchen zum Geburtstag, war schon immer etwas ganz Besonderes für mich. Die Dynamik einer großen Gruppe, die Verletzlichkeit, die nur ganz nahe Beziehungen mit sich bringen und das Vertrauen, das die Lehrgangsteilnehmer*innen und ihre Familien uns als Veranstalter und den Referent*innen entgegenbringen faszinieren mich jedes Mal aufs Neue.
Es bedeutet eine große Verantwortung, aber auch ein großes Geschenk Teil dieses Lehrgangsblocks zu sein.
Das Familienwochenende ist so essentiell für uns, weil wir als Family Counselor nur seriös mit Familien, arbeiten können, wenn wir unsere eigenen Familien, ihre Verbindungen, Rituale, Verhaltensmuster, Dynamiken und Baustellen immer wieder spüren, erfahren, überdenken und dadurch immer besser kennenlernen.
In diesem Jahr war es noch ein bisschen spezieller für mich. Einerseits organisiere ich den Lehrgang und bin zuständig für alle Formalitäten, die ihn betreffen, andererseits ist mein Mann diesmal Teilnehmer und hat mich als seine Frau eingeladen, mit dabei zu sein.
Was für eine irre Gelegenheit für mich, ein und dieselbe Erfahrung aus mindestens zwei Perspektiven zu machen.
Wir hatten im Vorfeld zwar geklärt, dass ich an diesem Wochenende vor Ort nichts Organisatorisches abwickeln werde, aber meine Wahrnehmung kann ich ja nicht gut abstellen. So nach dem Motto: "Den organisatorischen und fachlichen Blickwinkel bitte auf Standby." Ein Sammelsurium an Wahrnehmungen und Empfindungen durchströmte mich also an vielen Momenten dieser Tage.
Es war mir schon im Vorfeld sehr wichtig, dass alles bestmöglich vorbereitet und durchdacht ist und die Bedürfnisse von allen individuell so gut wie möglich gesehen und beantwortet werden.
Vor Ort war also ein Teil meiner Wahrnehmung unweigerlich darauf gerichtet, wie die Teilnehmer*innen und ihre Familien in den ersten Stunden und Tagen auf Umgebung und Struktur reagierten (und auch, ob sie meine Erwartungen und die meiner Familie trafen).
Darüber hinaus war ich intensiv damit beschäftigt, wie sich meine Rolle als Ehefrau eines Teilnehmers gestalten würde und auch, wie wir als Familie mit den Anforderungen, die die Aufgabenstellungen der Referent*innen an uns stellten, zurechtkamen.
Schlussendlich galt mein Interesse, selbst Family Counselor, auch der fachlichen Arbeit der Referent*innen und der Lehrgangsteilnehmer*innen, die in der Mitte mit den Familien arbeiteten.
Ganz schön viel wahrzunehmen.
Doch es hat sich gelohnt, die Herausforderung anzunehmen.
Als Organisatorin bin ich bestärkt, dass die Struktur einen wesentlichen Teil des Gelingens so einer Veranstaltung ausmacht. Und ich fühle mich beglückt und beschenkt, weil alle den Ort und die Angebote darin so genießen konnten (das Wetter war noch dazu perfekt - dafür war ich allerdings nicht zuständig...)
Als Partnerin und Mutter bin ich dankbar für innige Situationen und Auseinandersetzungen in meiner Familie und für die vielen Beispiele der anderen Familien, die mir wieder gezeigt haben, dass es sich lohnt Dinge aus- und anzusprechen und, dass wir alle Erfahrungen teilen, die in jeder Familie so, oder so ähnlich aussehen.
Als Fachfrau schließlich bin ich berührt von Menschen, die bereit sind, sich auf eine so mutige und ehrliche Art mit sich selbst und ihren Partner*innen und Kindern auseinanderzusetzen und ich bin dankbar, sie und die angehenden Family Counselor auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Ein Geschenk über das ich jeden Tag aufs Neue glücklich bin.
Ein kleiner Junge sitzt im Einkaufswagen im Supermarkt und singt hingebungsvoll vor sich hin. Inmitten der maskierten und aufs Einkaufen konzentrierten Erwachsenen wirkt er wie eine Insel der Entspannung. Ich schaue ihm fasziniert zu und muss dabei lächeln. Da treffen sich unsere Blicke. In seinem Gesicht entsteht auch ein Lächeln, aber auf halbem Weg hört es auf. Wie eingefroren. Mir ist klar, dass es mit meiner Maske zu tun haben kann und ich versuche umso mehr, mit meinen Augen zu lächeln. Es gelingt mir nicht, ich gehe vorbei, der Junge hat aufgehört zu singen und schaut weg.
Ich ärgere mich über diesen Ausgang, schimpfe innerlich über die Pandemie und drifte ab in Gedanken darüber, wie kleine Kinder die Umwelt auf Dauer erleben, wenn ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, in Gesichtern zu lesen. Ich stehe vor einem Regal und habe den Faden bei meinem Einkauf verloren, denn eigentlich ist mein Kopf damit beschäftigt, eine Lösung für das von mir gerade bemerkte Problem zu finden. Ich muss mich daran erinnern, dass ich das gar nicht kann. Mein Wunsch zu helfen sitzt oft in der ersten Reihe.
Ich frage mich, woher der Impuls kommt, Probleme schnell zu lösen. Neulich klopfte an die Tür meines Beratungsraumes die Kosmetikerin, die ihr Studio auf demselben Gang hat. Ihr Staubsauger funktionierte nicht, ob ich mal schauen könnte. Ich hatte den Knopf schnell gefunden, sie bedankte sich, ich freute mich geholfen zu haben und weg war sie. Danach stand ich wieder allein da und dachte an den Klienten, mit dem ich kurz vorher über seine Trennung gesprochen hatte. Er hatte gesagt, dass es ein gutes Gespräch für ihn war, aber der Vergleich zum Staubsauger fiel mir halt auf.
Zum Glück gibt es viele andere, die sich auch mit dem Helfen wollen beschäftigt haben. Bei einem Vortrag der Schriftstellerin Anne Lamott hieß es: „Hör auf zu helfen! Wenn es das Problem von jemand anderem ist, dann hast du wahrscheinlich sowieso keine Lösung!“ Und der Familientherapeut Jesper Juul behauptete sogar einmal, wir hätten gar nicht das Recht zu helfen. Und dem, der sich nicht helfen lässt, kann man laut einem Sprichwort sowieso nicht helfen.
Helfen scheint also gar nicht so einfach zu sein. Selbst wenn Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie ein Problem haben, heißt das überhaupt nicht automatisch, dass sie auch einen Rat wollen. In den meisten Fällen geht es erst mal um etwas anderes. Ich habe schon oft den irritierten Blick von Männern gesehen, wenn ihre Frauen ihnen mitteilen, dass sie gar keine Hilfe wollen, wenn es ihnen schlecht geht, sondern dass sie sich wünschen, dass man ihnen zuhört. Helfen verboten! Aber dann gibt es die Momente, in denen Menschen sich auf einmal selbst ernsthaft fragen: „Was soll ich bloß tun?“ Ich glaube inzwischen, dass es an solchen Stellen sinnvoller ist, sich in dem momentanen Dilemma etwas aufzuhalten, als möglichst schnell wieder herauszukommen.
Für manche Menschen ist es überhaupt unangenehm, am empfangenden Ende einer Hilfe zu sitzen. Vielleicht sind sie es mehr gewöhnt, auf der gebenden Seite zu sein oder es fühlt sich falsch für sie an, etwas nicht allein zu schaffen. Wenn ich jemandem helfen will, kann es auch passieren, dass ich einen hervorragenden Ratschlag besitze, ihn aber auf eine blöde Art oder zum falschen Zeitpunkt mitteile. Das nützt dann gar nichts. Es kann auch sein, dass ich mir die beste Mühe gebe und die andere Person will meine Unterstützung nicht. Dann kann Helfen-Wollen übergriffig werden. Damit das nicht geschieht, ist es wichtig, zu unterscheiden, ob meine Hilfe der anderen Person dient oder eigentlich mir selbst.
Und oft ist das, wobei ich helfen will, einfach zu groß. Zum Beispiel bei existentiellen Themen wie Tod, Trennung oder halt bei einer Pandemie. Für mich ist deshalb die Frage wichtig geworden, die die Empathieforscherin Eve Ekman Krankenschwestern in einem Hospiz gestellt hat: „Wenn du dich nicht erfolgreich fühlen kannst dadurch, dass du jemandem hilfst, gesund zu werden oder seine Probleme zu lösen, gibt es etwas anderes im Zusammensein mit der Person, was dein Sein erfolgreich machen könnte?“
Den Jungen im Einkaufswagen kann ich nicht vor den Auswirkungen der Gesichtsbedeckung schützen, aber ich werde auf jeden Fall wieder lächeln, wenn mir danach ist. Und vielleicht zeige ich das nächste Mal kurz mein ganzes Gesicht.
Ich sitze hier in Istrien, im Wohnwagen, in einigen Metern Entfernung rauscht das Meer. Dazu die Zikaden mit ihrem rhythmischen Tönen. Mir ist schwer ums Herz, ich schreibe diesen Text nicht gerne, denn der Anlass ist der Tod von Jesper Juul.
Der Urlaub steht vor der Tür, und ich unterhalte mich mit meinem 16-jährigen Sohn über unsere Urlaubspläne. Ich freue mich, dass wir uns mit einigen Freunden treffen und dass meine Freundin und ihre Kinder auch dabei sein werden.
"Wenn sie mitkommt, dann komme ich nicht mit,“ sagt er sofort.
Ich bin schockiert. Was?!?!?!?!" Von einer Sekunde auf die andere ist mein Kopf leer. Ich denke nur noch in Schwarz und Weiß. Entweder läuft es so wie ich will und er verliert oder umgekehrt. Und damit kommt die Angst vor einer Entscheidung, die mir unmöglich erscheint und die ich nicht treffen will. Ich will mich nicht zwischen meinem Sohn oder meiner Freundin entscheiden.
Letztes Jahr ist vieles schief gegangen. Wir haben schon auf dem Weg in den Urlaub gestritten. Wir haben während wir dort waren fast jeden Tag gestritten. Und wir haben auch auf dem Heimweg gestritten. Einige Male hatte ich das Gefühl, es wäre entspannter, nicht im Urlaub zu sein. Zu viele widersprüchliche Bedürfnisse. Zu viele Emotionen. Zwei Familiensysteme, die sich immer wieder in die Quere kommen. Vier Teenager, die alle ihre Bedürfnisse erfüllt haben wollten. Zwei Erwachsene, die, gelinde gesagt, völlig überfordert waren. Und keine Freunde oder andere Möglichkeiten, sich auszutoben und schwierige Gefühle zu zeigen. Eine entspannte Zeit? Kaum.
Und mit seiner Erklärung "Ich komme nicht mit" überflutet mich die volle emotionale Erinnerung an das letzte Jahr. Die Wut. Die Beklemmung. Das Gefühl, festzustecken. Hilflos zu sein. Überwältigt zu sein.
Emotionaler Überfall
Durch meine Erfahrung als Family Counselor habe ich ein ziemlich klares Bild, was jetzt gerade mit mir passiert und was ich auch tun muss. Im Moment der Überforderung schaltet mein System von einer Sekunde auf den Nächsten auf Notfall um, und damit steigt auch die Bereitschaft zu Kämpfen oder zu Fliehen. Ich muss einen Weg finden, meine Gefühle zu fühlen, mit mir selbst wieder in Kontakt zu kommen. Ich muss mein System beruhigen, um wieder handlungsfähig zu werden.
Obwohl wir kopfgesteuerte Menschen sind, sind meine Gedanken hier nicht hilfreich, sondern befeuern nur meine Kampf-/Fluchtbereitschaft. Wir kommen erst über unsere Gefühle und körperlichen Empfindungen wieder mit uns selbst in Kontakt. Durch Selbstberuhigung und dem Ernstnehmen der eigenen Gefühle signalisieren wir unserem System „die Gefahr ist jetzt vorbei, jetzt ist es sicher“.
Im Sommerurlaub letztes Jahr ist mir dies nicht gelungen. Mein Stresssystem war dauernd auf Stufe Rot, und die geringste Provokation veranlassten mich zum Angriff oder Flucht. Was natürlich nur die Abwehr meines Sohnes oder meiner Freundin aktivierte und zu einem ständigem:" Du hast gesagt", "Ja, aber du hast getan", "Nein, das warst du“ führte. Die Meinungsverschiedenheiten waren oft klein, aber die emotionalen Reaktionen waren groß! Mein ständiges Kämpfen verhinderte, dass ich mich selbst wahrnehmen und fühlen konnte. Ich blieb stecken!
In die Gefühle eintauchen
Ich atme also jetzt tief durch und erinnere mich daran, dass meine Gefühle einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, und tauche ein. Was fühle ich? Ich probiere, das aufzuschreiben
Die bewegungslose Starre fühlt sich sehr fest an. Aber ich atme tief durch und mache weiter…
Während ich die Sätze schreibe, bleibe ich mit meiner Angst präsent. Ich fühle sie. Lasse sie zu. Ich versuche nicht, sie aufzulösen oder mein Denken zu aktivieren, in dem ich nach Lösungen suche. Ich schreibe meine Gefühle einfach auf. Ich spüre es tut gut. Ich habe viele Ängste, die mir nicht bewusst waren. Meine heftige Reaktion macht zunehmend Sinn. Ich bleibe dran. Was ist sonst noch da?
Während ich meine Wut aufschreibe, spüre ich einen Energieschub. Ein Teil von mir will „ja aber“ sagen, die Wut verkleinern. Aber einen anderen Teil lässt die Wut zu. Ich muss nicht nur schöne Gefühle haben. Es nervt einfach und jetzt kann ich es zulassen. Es kommt auch der Wunsch, die Dinge zu ändern; Grenzen zu setzen oder für das einzutreten, was mir wichtig ist; aktiv zu sein. Ich spüre auch, welche meiner Wünsche oder Sehnsüchte für mich wichtiger sind. Ich versuche bewusst keine, Aktionspläne zu erstellen oder mich darin zu verfangen, wie ich diese Dinge verwirklichen kann. Ich lasse einfach zu, dass meine Wut jetzt da ist, dass ich sie spüre, wie sie steigt und sich wandelt. Und es kommen neue Gefühle…
Im ersten Moment fühlt es sich schwer und hoffnungslos an. Ich versuche nicht, mir einzureden, dass es nicht so schlimm ist. Ich lasse die Schwere zu. Und dann kommt ein kleines Loslassen. Ein annehmen, dass es so ist. Und die Trauer fühlt sich überraschenderweise erleichternd an. Ich mag es immer noch nicht, dass die Dinge nicht so sind, wie ich sie mir wünsche. Aber, ich kann auch anfangen sie zu akzeptieren. Jetzt ist es so. Das darf sein. Und es steigt in mir eine Offenheit für das, was da ist auf.
Die Offenheit fühlt sich gut an. Wie ein Vertrauen in unsere Beziehung. Das bekommen wir schon hin. Es überrascht mich, wie schnell meine inneren Gefühle sich von Widerstand zu Offenheit verändert haben. Die Offenheit ist echt, nicht gezwungen. Und ich spüre plötzlich, was ich mir wünsche…
Ich spüre mich wieder. Es tut gut. Ich kann wieder tief und frei atmen. Ich fühle mich wieder mit mir verbunden. Meine Füße fest auf dem Boden. Und es ist eine ganz andere Energie da.
Eine Änderung von Innen
Nachdem ich diesen Prozess durchlaufen habe, wird mir plötzlich bewusst, dass mein Drang zu kämpfen oder zu fliehen sich verändert hat. Es ist jetzt zum Wünsch geworden mit meinem Sohn und meiner Freundin zu sprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Lösung finden werden. Aber ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die Situation schwarz oder weiß ist, und dass es einen Gewinner und einen Verlierer geben wird. Ich bin jetzt bereit, meine, seine und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen. Und in allem will ich dem treu bleiben was mir wichtig ist.
Es entstehen in mir neue Wörter, die ausgesprochen werden möchten. „Tut mir leid, dass ich unser Gespräch über den Urlaub so blöd angefangen habe. In dem Moment konnte ich nicht reagieren, ich war überfordert. Aber ich habe gehört, dass du Bedenken hast. Können wir das Thema nochmals angehen. Ich würde gerne hören, wie es letztes Jahr für dich war, was du dir wünscht und würde dir auch gerne erzählen, wie es für mich war und was ich mir wünsche…